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Ducaten oder Gold füllen. Das Kind griff sogleich nach dem Golde. Da fürchtete der Kaiser des Todtenkopfes Drohung erfüllt. Als der Knabe zum Jüngling heranwuchs, trieb ihn der Kaiser in die weite Welt: „Nirgends sollst du ruhen, bis du den Ort findest, wo zwei Uebel handgemein geworden sind“. Der Jüngling irrte durch die Welt, kam an Constantinopels Stätte und fand hier einen Weissdorn, um den sich eine Schlange gewunden, so dass sie sich beide stachen. „Hier muss ich stehen bleiben“. Da kehrte er sich um, und vom Dorne bis zu seinem Rücken streckte sich eine Mauer. Später ward der Jüngling zu Constantinopel Kaiser, nachdem er seinen Grossvater der Kaiserwürde beraubt hatte.

In dem namenlosen Jüngling dieser Serbischen Sage kann nur Constantin der Grosse gefunden werden; denn er und kein anderer war der Neubegründer Constantinopels. Wie wir nun sehen, dass das Märchen von jenem Knaben, der das ihm prophezeite Glück trotz aller Verfolgung erlangt, im Altfranzösischen auf Constantin den Grossen übertragen ward, mit diesem aber ursprünglich gar nichts zu thun hatte, so haben wir in dieser Serbischen Erzählung ebenfalls eine Uebertragung eines Märchens, das ursprünglich mit Constantinopel und seinem Gründer nicht zusammenhing, auf eben diesen Constantin den Grossen. Dieses zweite Märchen kann man bezeichnen als das von dem Schädel, der, obgleich todt, doch noch schaden kann. Es kehrt im Türkischen Tutinameh[1] und in der Volksliteratur der Türkischen Stämme Südsibiriens[2] wieder. Dass wir bei den Serben diese Erzählung von dem Schädel auf Constantin den Grossen übertragen vorfinden, liegt vermuthlich in Byzantinischem Einfluss begründet. Denn da die Südslawischen Literaturen vorzüglich aus Byzantinischen Quellen geschöpft haben, so ist es höchst unwahrscheinlich, dass diese Serbische Sage aus einer occidentalen Quelle geflossen sei[3].



  1. Tutinameh, übers. v. G. Rosen II, S. 85 ff.: „Geschichte von dem Schädel, durch den achtzig Menschen das Leben verlieren“.
  2. W. Radloff’s Proben der Volksliteratur der Türkischen Stämme Südsibiriens IV, 488 ff.
  3. Russ. Revue VI, 182.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1893, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1893_09_027.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2023)