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Auflage wäre vielleicht vornehmlich die Aufgabe zu stellen, auch in dieser Beziehung die rechte Ausgleichung zu finden.

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Lindner’s Geschichte des Deutschen Volkes soll nach des Verfassers Erklärung kein Lehrbuch sein, sondern ein Buch zur Lectüre, „gewidmet allen, denen die Geschichte des Deutschen Volkes der Theilnahme werth erscheint“, und dazu bestimmt, nicht ausführlich zu erzählen, sondern „die grossen Gesichtspunkte scharf hervorzuheben und das für die Entwicklung Wirksame darzulegen“. Der Verfasser will die Kriege und politischen Verflechtungen nur soweit verfolgen, „als sie die geschichtliche Weiterbildung bestimmen“; dagegen „die allgemeinen Zustände und die bedeutenden Persönlichkeiten“ in den Vordergrund rücken, zugleich auch versuchen, „den Antheil des Volkes und den der führenden Geister an unserem Werdegange gleichmässig zu verfolgen“.

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Eine Deutsche Geschichte aus einem einheitlichen Gusse, nicht ein zur Noth zusammenpassendes Product der modernen Arbeitstheilung, von leicht zu übersehendem Umfang, so dass sie hinter einander ohne Verwirrung der Eindrücke gelesen werden könnte, aber doch nicht so knapp gehalten, dass alle anschaulichen Details verloren gingen, etwa in zwei oder drei mässig starken Bänden, auf der Höhe der fachwissenschaftlichen Forschung und doch frei von allem gelehrten Anstrich, wahrhaft vornehm und volksthümlich: eine solche Deutsche Geschichte ist ein altes und wohl das schmerzlichst empfundene Desiderium, das die Deutsche Geschichtswissenschaft dem Deutschen Publicum noch nicht erfüllt hat. Auch in Fachkreisen kann man oft hören, dass ein solches Werk unserer Literatur vor allem fehle und dass es, so überladen auch das Publicum mit schweren Sammelwerken einerseits und mit leichter Waare andererseits sei, doch noch glänzend seinen Weg machen werde, wenn es wirklich das leiste, was so sehr vermisst werde. Die Schwierigkeit der Aufgabe hat bisher die Erfüllung verhindert; denn von K. Lamprecht’s originellem und (auch bei Beachtung aller Ausstellungen) immer höchst bedeutendem Werke dürfen wir hier absehen, da es in einem grösseren Massstabe angelegt und bisher auch noch nicht vollendet ist.

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Nun hat Th. Lindner sich daran gewagt. Sein Buch liegt in zwei gleichzeitig ausgegebenen Bänden fertig vor (Stuttgart, Cotta. xij 342 und 288 p. 12 M.). Er behandelt die ersten Zeiten sehr kurz, setzt eigentlich erst ein mit der „Gründung des Deutschen Reiches unter Heinrich I.“, reicht im ersten Bande bis zum Augsburger Religionsfrieden, im zweiten bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871. Das Buch ist freudig zu begrüssen als der seit langer Zeit zum erstenmale von einem unserer hervorragendsten Historiker gemachte Versuch zur Lösung der grossen Aufgabe. Dass es vor allen ähnlichen Werken die grossen Vorzüge voraus hat, die der wissenschaftlichen Stellung seines Verfassers entsprechen, braucht nicht erst versichert zu werden; – aber das lang ersehnte Werk, von dem ich oben gesprochen habe, die Deutsche Geschichte, die der Deutschen Geschichtswissenschaft, vor allem aber dem Deutschen Volke noth thut, die ist uns in dem Buche noch nicht gegeben.

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Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1894, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1894_11_386.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2023)