Seite:De Die Chinesische Mauer (Kraus) 08.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

problematisch geworden, was sich seit zwei Jahrtausenden von selbst versteht. Auf einem Krater, den wir erloschen wähnten, haben wir unsere Hütten gebaut, mit der Natur in einer menschlichen Sprache geredet, und weil wir die ihre nicht verstanden, geglaubt, sie rühre sich nicht mehr. Sie aber hat durch all die Zeit ihre heißen Feste gefeiert und an unserer gottseligen Sicherheit ihren Erdenbrand genährt. Wir haben das Geschlecht für verjährt gehalten; wir haben die Konvention getroffen, von ihm nicht mehr zu sprechen. Die angetraute Metze Natur, in soziale Bindung gezähmt, schien nur so viel Wärme zu spenden, als unserm Behagen unentbehrlich war, und was sie sonst an Feuer hatte, reichte hin, unsere Suppe zu kochen. Da kommen wir ihr darauf, daß sie all die Zeit ihre Wonne nicht unserm Wahn geopfert, nein, unsern Wahn ihrer Wonne dienstbar gemacht hat. Da entdecken wir, daß unser Verbot ihr Vorschub, unser Geheimnis ihre Gelegenheit, unsere Scham ihr Sporn, unsere Gefahr ihr Genuß, unsere Hut ihre Hülle, unser Gebet ihre Brunst war. Was es an Hemmungen der Lust in der Welt gibt, wurde zur Hilfe, und die gefesselte Liebe liebte die Fessel, die geschlagene den Schmerz, die beschmutzte den Schmutz. Die Rache des verbannten Eros war der Zauber, allen Verlust in Gewinn zu wandeln. Schön ist häßlich, häßlich schön und was den wachen Sinnen ein Abscheu ist, lockt sie in die Betäubung der

Empfohlene Zitierweise:
Karl Kraus: Die Chinesische Mauer, Leipzig 1914, Seite XX. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_08.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)