Erhard Weigel: Wie / Nach der Art der alten Weisen / der Grund aller Kunst und Tugenden / mit Freuden einzuflössen | |
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nach gemeiner Lehr-Art in uns eine Gestalt gewinnen soll / so muß nicht nur die gantze Jugend / sondern auch ein grosses Stück erwachsenen Alters / ihnen aufgeopfert werden. Unterdessen mag der HErr Christus mit seiner Gestalt / die Er in uns gewinnen solte / bleiben wo er will.
Hingegen wenn die Tugenden / als das Principal-Stück öffentlicher Lehr / vornehmlich in der Schul getrieben würden / nicht nur theoretisch / daß man wisse was vor Tugenden zu thun seyn / und wie mancherley sie seyn / etc. denn dieses giebt sich selbst / und ist das meiste von Natur bekant; sondern practisch / aber nicht allein mit Sagung- und Vermahnungen / denn diese treffen den Verstand mehr als den Willen; sondern mit der That / doch nicht erst denn / mit unbarmhertzigen Schlägen / wenn im Lesen oder memoriren oder sonst gefehlt worden / denn dis macht den Willen hart / und ist eben so als wenn man Vogel fangen und mit Brügeln drunter werffen wolte; sondern mit geschickter- angenehmer- munderer- und raisonabler Thätigkeit / womit die Jugend in den Schulen stets zu unterhalten / und damit von Viehischer Unmüßigkeit zu Hauß und auf den Gassen abzuhalten / wie es die 4. freyen Künste sattsam an die Hand geben: wenn die Jugend / sag ich / in der Schul vornehmlich zu den Tugenden also gehalten würde / wäre nicht allein der Grund der Künste und Wissenschaften / sondern auch die Schönheit des Lateins / noch vor dem 20sten Jahr / als ein Zugab / leichtlich zuerhalten.
Denn man rechne nur und überlege doch: die Schönheit des Lateins (wie aller Sprachen in der Weld) besteht darinnen / daß man erstlich wie die Sachen selbst davon man reden soll geschicklich / der Natur nach / auf einander folgen / wie sich eines auf das ander beziehe / wie das erste mit dem andern / und das dritte mit dem vierdten / und wie alles endlich zu dem vorgesetzten Zweck / proportionirt sey und sich schicke / daß man solches / sag ich / eben der Natur gemäß berechne und ausdencke / welches unumbgänglich das Erkäntnis solcher Sachen / wenigstes den Elementen nach / die in besagten freyen Künsten lieblich vorgestellet sind / erfodert: und zum 2. so besteht die Schönheit auch hierinnen / daß man / wie die Wörter / Phrases und Enunciationen oder Sprüche der gemeinen Leuthe ihrer Gewohnheit nach (der Art zureden nach) sich aufeinander schicken / nicht aus eigener caprice sondern einig und allein aus eines oder auch der andern Claßischen Autoren seiner Schrift per analysin ausrechne / und die vorgesetzte neue Rede durch die Regeln der Rhetoric, Logic, Oratorie und Poësie / nach derselben Schrift proportionire, sie wohl imitire und nachahme:
Erhard Weigel: Wie / Nach der Art der alten Weisen / der Grund aller Kunst und Tugenden / mit Freuden einzuflössen. Johann Bielken, Jena 1685, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_bereiteste_Execvtion,_des_Allerleichtesten_Vorschlags_5.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)