Erhard Weigel: Wie / Nach der Art der alten Weisen / der Grund aller Kunst und Tugenden / mit Freuden einzuflössen | |
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Ohne Zweifel ist der Abschied solcher freyen Künste aus den Schulen nicht zugleich und auf einmahl geschehen / sondern nach und nach / daß man nicht weiß wer mehr und weniger dazu contribuirt. Gewiß ists / wer zum ersten von den Inspectorn auf die Gedancken kommen / das Latein mit seiner Schönheit könne besser nicht / auch bey der Jugend / (wie sonst bey dem Alter) angebracht und informiret werden / als der Kunst nach durch genaue Regeln und derselben stete Wiederholung; der hat grosse Schuld an diesem Ubel.
Denn sothane Regeln sind der Kinder ihrer Fähigkeit gar nicht proportionirt / zumahl wenn sie lateinisch abgefaßt anweisen sollen / wie lateinisch soll geredet werden; gleich als wenn man Vogel fangen / und dieselben Vogel selbst zu Lock-Vogeln ihrer selbst gebrauchen wolte. Derowegen nehmen diese Regeln alle zu der Schul gewidmete Stunden denen Kindern weg / und sind doch gantz und gar vergebens. Denn die Regeln helffen alten Leuthen eine Sprach begreiffen; aber Kinder hindern sie. Es lernen diese endlich zwar etwas Latein / wenn sie bis in das 20ste Jahr dis Wesen treiben; aber ihr Latein komt nicht von Regeln / sondern von Exempeln / theils die bey den Regeln stehen / theils die in den Claßischen autoren vorkommen / die man explicirt und resolvirt / vertirt und imitirt / memorirt / repetirt und examinirt. Bey solcher Arbeit aber kan nichts anders in der Schul tractiret werden / sondern es muß auch die GOttes-Furcht / geschweig die freyen Künste / so weit nachgesetzt verbleiben / daß / wenn gleich die zehen Gebot / das Evangelium / der Psalter und dergleichen / in der Schul zu finden / dennoch solche Dinge meistes nur entweder memoriret / oder explicirt / analysirt / und imitirt / das ist / der Sprach nach zuverstehen und nachzusprechen / angewiesen / aber nicht zu practiciren mit Vortheil angewehnet werden.
Gehet also alles auf die Sprach / und wird dieselbe vor ein Fundament gerechnet (da Sie doch / wie alle andere Sprachen / nur ein Instrument ist) das Gemüth zur Weißheit zuerbauen. Wer ist aber weiter Schuld daran / als diese / die aus guter Meynung denen Kindern mit Kunst-Regeln eben also / wie ein Fuhrman seinen Berg anziehenden Pferden mit Einhemmen / helffen wollen? Ich will kurtz und teutsch heraus gehen / und behaupten / daß der Abgang der 4. freyen Künste niemand mehr als denen öffentlich dazu bestelten Mathematicis sey zuzuschreiben oder beyzumessen / wenn sie still geschwigen / und es nicht erinnert haben / daß der Grund der Kunst und Tugenden / der in den freyen Künsten steckt / (die alle Mathematischer Profession sind) ohne unausprechlichen Schaden aus den Kinder-Schulen nicht vertrieben werden mag.
Erhard Weigel: Wie / Nach der Art der alten Weisen / der Grund aller Kunst und Tugenden / mit Freuden einzuflössen. Johann Bielken, Jena 1685, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_bereiteste_Execvtion,_des_Allerleichtesten_Vorschlags_7.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)