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den Eindrücken eines Ronacher-Abends durch Wochen zu zehren, die Komik eines Clowns mit Behagen zu geniessen und bei jedesmaligem Zusammensein die ältesten Anekdoten auszutauschen. Derselbe Geist, wenn er aus solcher Lebensfülle in beschauliches Alleinsein flieht, findet Stimmungstrost in dem Gedanken an die „stillen Gassen am Sonntag-Nachmittag“ und an das „unsäglich traurige Praterwirthshaus an Wochentagen“, – immer wiederkehrende sentimentale Wahnvorstellungen, die diesen rührend engen Horizont ausfüllen. Auch haben sie in Wien einige Oertlichkeiten gepachtet, in die sie ihre ganze eigene Empfindungswelt einspinnen. So müssen die Fischerstiege, der Heiligenkreuzerhof, die Votivkirche und die Karlskirche ihren Bedarf an Stimmungen decken. „Die Karlskirche gehört mir!“ rief einer eines Tages, da der Tischnachbar sie ihm streitig machen wollte. Als Letzterer sich mit dem Wienufer zufrieden gab, war der Grenzstreit der Stimmungen friedlich beigelegt.

Der am tiefsten in diese Seichtigkeit taucht und am vollsten in dieser Leere aufgeht, der Dichter, der das Vorstadtmädel burgtheaterfähig machte, hat sich in überlauter Umgebung eine ruhige Bescheidenheit des Grössenwahnes zu bewahren gewusst. Zu gutmüthig, um einem Problem nahetreten zu können, hat er sich ein- für allemal eine kleine Welt von Lebemännern und Grisetten zurechtgezimmert, um nur zuweilen aus diesen Niederungen zu falscher Tragik emporzusteigen. Wenn dann so etwas wie Tod vorkommt, – bitte nicht zu erschrecken, die Pistolen sind mit Temperamentlosigkeit geladen: „Sterben“ ist nichts, aber leben und nicht sehen....!

Nicht um Leben aufzunehmen, treten diese Nachempfinder dann und wann aus dem Schneckengehäuse ihres angeblichen Ich heraus, nur um dessen coquette Windungen andächtig zu betrachten. Ein an französischen Vorbildern geübter Formensinn läßt sie an der dekorativen Ausgestaltung ihrer nächsten Umgebung, ja der eigenen Person ein naives Vergnügen finden. Da ist ein Schriftsteller, der so grosse Erfolge auf dem Gebiete der Mode aufzuweisen hat, dass er sich getrost in eine Concurrenz mit der schönsten Leserin einlassen kann. Diesem Autor, der seit Jahren an der dritten Zeile einer Novelle arbeitet, weil er jedes Wort in mehreren Toiletten überlegt, liefert ein persischer Tuchfabrikant die besten Stoffe. Mit eisernem Fleisse schafft er an seiner Kleidung und feilt sie bis in das feinste und subtilste Detail;

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_10.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)