Seite:De Die demolirte Literatur Kraus 18.jpg

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Endlich einmal ein wirklich Nervöser! Das thut förmlich wohl in dieser Umgebung des posirten Morphinismus. Es ist kein Künstler, nur ein schlichter Librettist, der hier den Andern mit gutem Beispiel vorangeht. Abgehetzt, von den Aufregungen der Theaterproben durch und durch geschüttelt, nimmt er geschäftig Platz: Kellner, rasch alle Witzblätter! Ich bin nicht zu meinem Vergnügen da! – Während seine moderneren Tischgenossen in das geistige Leben Wandel zu bringen bemüht sind, sehen wir ihn dem Handel Eingang in die Literatur verschaffen. Seine Beziehungen zur Bühne sind die eines productiven Theateragenten, und er entwickelt eine fabelhafte Fruchtbarkeit, die sich auf die meisten Bühnen Wiens erstreckt. Nach jeder einzelnen seiner Operetten glaubt man, jetzt endlich müsse sich seine Kraft ausgegeben haben. Doch ein Antäus der Unbegabung, empfängt er aus seinen Misserfolgen immer neue Säfte. Er erscheint fast nie allein auf dem Theaterzettel, und pikant müsste es sein, die beiden Compagnons an der Arbeit zu sehen. Hier ergänzen sich die Individualitäten wohl so am passendsten, dass, was dem Einen an Humor fehlt, der Andere durch Mangel an Erfindung wettmacht. Der Andere ist talentlos aus Passion, der Eine muss davon leben. Doch scheint solch ein Geschäft seinen Mann zu nähren. Heute gehört ihm eine Villa, am Attersee herrlich gelegen, – mit Aussicht auf den Waldberg.

An diesen Kreis von jungen Männern, die nicht schreiben können, sich aber immer nur auf den einen Beruf capriciren, schliesst Einer sich an, der durch Vielseitigkeit wohlthuende Abwechslung bietet: Er kann auch nicht malen. Erst in gereifteren Jahren ging er daran, seiner Unbegabung auch schriftstellerischen Ausdruck zu geben, nicht ohne sich vorher eine feste Grundlage umfassender Bildungslosigkeit geschaffen zu haben, und lange bevor er durch seine eigenartigen Beziehungen zu der deutschen Grammatik von sich reden machte, konnte er auf zahlreiche Misserfolge als bildender Künstler hinweisen. An ihm zerschellt jenes bekannte Witzwort, das noch Alle, die zwei Beschäftigungen in einer Hand vereinigen wollten, glücklich getroffen hat: die Schriftsteller wissen nämlich schon, dass er kein guter Maler, und die Maler täuschen sich nicht mehr darüber, dass er kein guter Schriftsteller ist. Der Letztere bezog lange Zeit hindurch seinen Styl aus Linz, von wo ja bekanntlich seit einigen Jahren alle literarischen Reformversuche ihren Ausgang nehmen. Die Gewalt, die er bereits nach

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_18.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)