Seite:De Die demolirte Literatur Kraus 24.jpg

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Individualität preiszugeben, hat diese Marqueure hoch über alle ihre Berufscollegen emporgehoben, und man mochte nicht an eine Kaffeesiedergenossenschaft glauben, die ihnen die Posten vermittle, sondern stellte sich vor, die deutsche Schriftstellergenossenschaft habe sie berufen. Eine Reihe bedeutender Kellner, welche in diesem Kaffeehause gewirkt haben, bezeichnet die Entwicklung des heimischen Geisteslebens. Eine überholte Dichtergeneration sah Franz, den Würdigen, dessen Andenken noch in zahlreichen Anekdoten festgehalten wird. Es lag Styl und Grösse darin, wenn er einem Passanten, der nach zwanzig Jahren wieder einmal auftauchte, dieselbe Zeitung unaufgefordert in die Hand gab, die jener als Jüngling begehrt hatte. Franz, der k. k. Hof-Marqueur, hat eine Tradition geschaffen, welche heute von den Jungen über den Haufen geworfen ist. Mit dem Tode des alten Kellners, dessen hofräthliche Würde schlecht zu dem Sturm und Drang der Neunzigerjahre gepasst hätte, begann eine neue Aera. Franz, der mit Grillparzer und Bauernfeld verkehrt hatte, erlebte es noch, wie der Naturalismus seinen Siegeslauf von Berlin in das Café Griensteidl nahm und als kräftige Reaction gegen ein schöngeisterndes Epigonenthum von einigen Stammgästen mit Jubel aufgenommen ward. Seit damals gehört das Café Griensteidl der modernen Kunst. Eine neue Kellnergeneration stand bereit, sich mit dem complicirten Apparat von Richtungen, die in der Folge einander ablösten, vertraut zu machen; die bis dahin einer veralteten Literatur als Zuträger gedient hatten, waren nun als Zahlmarqueure einer modernen Bewegung mit der Umwerthung aller Werthe beschäftigt – sie verstanden es, mit der Zeit zu gehen, und genügten bald den Anforderungen einer gesteigerten Sensitivität. Die Stimmungsmenschen, die jetzt wie die Pilze aus dem Erdboden schossen, wünschten seltsame Farbencompositionen für Gefrorenes und Melange, es machte sich das Verlangen nach inneren Erlebnissen geltend, so dass die Einführung des Absynths als eines auf die Nerven wirkenden Getränkes nothwendig wurde. Sollte die heimische Literatur aus Paris und Deutschland ihre Anregungen erhalten, so musste das Kaffeehaus sich die Einrichtungen von Tortoni und Kaiserhof zum Muster nehmen.

Bald war man mit dem consequenten Realismus fertig, und Griensteidl stand im Zeichen des Symbolismus. „Heimliche Nerven!“ lautete jetzt die Parole, man fing an, „Seelenstände“ zu beobachten und wollte der gemeinen Deutlichkeit der Dinge

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_24.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)