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Beobachtungen mit auf den Weg gegeben, und ein paar verkommene Nuancen, die einst vom Tische abgefallen waren, raffte er noch in Eile auf. Im Uebrigen mit einer tüchtigen Portion Selbstvertrauen begabt, wohl wissend, dass er, wo er sich nicht auf seine Freunde verlassen könne, schon auf eigene Faust undeutsch schreiben werde, begann er seine Thätigkeit. Zunächst fragte er einen Wachmann nach der Lage des Theaters, dessen Tradition zu bekämpfen er entschlossen war. Man kann sagen, er hat bis heute doch die wichtigsten Stücke Schiller’s und Shakespeare’s gesehen – warum zögert die Direction so lange mit dem Königsdramen-Cyklus? „Hamlet“ z. B. sah er gelegentlich einer Neubesetzung zum erstenmale, wobei er als gewissenhafter Recensent nicht verfehlte, vorher sich von der Directionskanzlei das Manuscript zu erbitten; und mit der ganzen Lapidarität, mit der sich seine Seichtheit nicht selten auszudrücken liebte, soll er kürzlich, entzückt, so weit es seine Würde zuliess, ausgerufen haben: „Man wird die Wolter im Auge behalten müssen!“ Stets hat er sich als der schneidige, unabhängige Kritiker erwiesen, der weder nach oben, noch nach unten Concessionen macht, ja selbst mit Hintansetzung aller grammatikalischen Rücksichten gegen Uebelstände energisch Stellung zu nehmen bereit ist. Der reformatorische Eifer berührte sympathisch, wenn er, ein eingewurzeltes Vorurtheil bekämpfend, dem Schauspieler Martinelli eine „breite, behagliche Gemüthlichkeit“ nachrühmte. Als Ironiker stand er allzeit auf eigenen Gänsefüsschen, und wenn es die Geisselung des bekannten Wiener Komödiantencultus galt, drohten in der Druckerei die Anführungszeichen auszugehen; denn immer neue uninteressante Seiten wusste er diesem Thema abzugewinnen. Einige Fremdwörter kamen ihm so neu vor, dass er es mit ihnen immer wieder versuchen zu müssen glaubte; so behauptete er stets, dass Herr Reimers ad spectatores spreche und dass das Fräulein Bleibtreu karyatidenhaft sei. Vielleicht war hier die Freude, Ausdrücke, die man sonst erst im Obergymnasium kennen lernt, schon nach vier Classen zu beherrschen, doch etwas zu stark betont.

Eines Tages liess er sich Muther’s „Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts“ als Recensions-Exemplar kommen und ward so Kunstkritiker. Als bald darauf die Muther-Hetze losging und der berühmte Kunsthistoriker vielfach des Plagiats beschuldigt wurde, erzählte man sich, Muther habe auch unseren Recensenten benützt.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_35.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)