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der Kaffeehauswelt, hat er sich dadurch, dass man ihn noch niemals sitzen sah, zu einer stehenden Figur des Griensteidl herausgebildet. Er hängt insoferne mit der Literatur zusammen, als ihm die Aufgabe obliegt, des Nachts die Dichter nach Hause zu begleiten. Hat einer der Herren einen Erfolg aufzuweisen, so wird Er größenwahnsinnig, und oft ist er durch das Lob, das Andere ernten, recht übermüthig geworden. Mit seinen literarischen Collegen hat auch er von Goethe manche Anregung erfahren:

 Er ging ins Kaffeehaus
So für sich hin,
Und nichts zu nehmen,
Das war sein Sinn.

Dabei ist er der fleissigste Stammgast. Die Marqueure haben sich an diesen Zustand gewöhnt. Anfangs musste er wohl, wenn die Andern bestellt hatten, stets wiederholen: „Mir bringen Sie nichts“; jetzt ist Heinrich schon eingeweiht und sagt immer gleich von selbst: „Herr Doctor – wie gewöhnlich“. Nur selten kommt es vor, dass Heinrich in seiner feinsinnigen Weise in den Bart brummt: „Zum Anregungenholen allein ist das Kaffeehaus nicht da“, aber sonst kann unser Gast mit der Bedienung zufrieden sein; er müsste sich beklagen, wenn sie zu aufmerksam wäre. Man hilft ihm nicht von seinem Hut und schweren Winterrock und lässt ihn stundenlang Vorträge über die Bedeutung der ihm Zuhörenden halten. So steht er da, Begeisterung schlürfend, heftig gesticulirend: er wäre ein grosser Schmock geworden, auch wenn er ohne Hände auf die Welt gekommen wäre...

Die Jung-Wiener Dichtergalerie besitzt einen Charakterkopf, der sehr hübsche Ansätze zu einem Dulderantlitz zeigt. Dieser Decadent (Abtheilung für Lyriker) ist durch drei stattliche Gedichtbände, in denen er bewiesen hat, dass er verwelkte Nerven besitzt, für den literarischen Tisch legitimirt „Neurotica“ wurden confiscirt und hatten „Sensationen“, diese aber „Gelächter“ im Gefolge. Die echte Dichtergabe, aus minimalen Erscheinungen ungeahnte Anregung zu ziehen, ihm ist sie nie versagt geblieben. Stets hat er um mehrere Grade höher gedichtet als erlebt, und wenn man sich nach den Urheberinnen seiner Ekstasen erkundigte, konnte man staunend erfahren, was so ein dämonisches Weib für Minderbemittelte Alles im Stande ist, wenn es von einem modernen Lyriker empfunden wird. Einst gab er vor, „Alles, was seltsam und krank“, zu lieben. Die Kritik glaubte indess, den Sitz

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_38.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)