Seite:De Die demolirte Literatur Kraus 39.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

seines Leidens in der Lectüre Baudelaire’s gefunden zu haben, verordnete ihm strengste Diät und untersagte ihm jede Manierirtheit. Er nun, aus Furcht, in eine unheilbare Gesundheit zu verfallen, kehrte sich an diese Massregeln nicht. Hektische Verse flössten ihm Wohlbehagen ein, er erwarb ein literarisches Wappen, in welchem sich eingezeichnet finden: ein Herz, das müd und alt, ein Sinn, der welk und kalt, sowie ein Strauss schwindsüchtiger Tuberosen, mit heimlichen Nerven umwunden. Der Erfolg enthebt ihn aller Reuepflichten und bei seiner Jugend ist er heute schon ein geübter Greis.

Endlich einmal ein wirklich Nervöser! Das thut förmlich wohl in dieser Umgebung des posirten Morphinismus. Es ist kein Künstler, nur ein schlichter Librettist, der hier den Anderen mit gutem Beispiel vorangeht. Abgehetzt, von den Aufregungen der Theaterproben durch und durch geschüttelt, nimmt er geschäftig Platz: Kellner, rasch alle Witzblätter! Ich bin nicht zu meinem Vergnügen da! – Während seine modernen Tischgenossen in das geistige Leben Wandel zu bringen bemüht sind, sehen wir ihn dem Handel Eingang in die Literatur verschaffen. Seine Beziehungen zur Bühne sind die eines productiven Theateragenten, und er entwickelt eine fabelhafte Fruchtbarkeit, die sich auf die meisten Bühnen Wiens erstreckt. Nach jeder einzelnen seiner Operetten glaubt man, jetzt endlich müsse er sich ausgegeben haben. Doch ein Antäus der Unbegabung, empfängt er aus seinen Misserfolgen immer neue Kräfte. Er erscheint fast nie allein auf dem Theaterzettel, und pikant müsste es sein, die beiden Compagnons an der Arbeit zu sehen. Hier ergänzen sich die Individualitäten wohl so, dass, was dem Einen an Humor fehlt, der Andere durch Mangel an Erfindung wettmacht. Der Andere ist talentlos aus Passion, der Eine muss davon leben. Doch scheint das Geschäft seinen Mann zu nähren. Heute gehört ihm eine Villa, am Attersee herrlich gelegen – mit Aussicht auf den Waldberg.

An diesen Kreis von jungen Männern, die nicht schreiben können, sich aber immer nur auf den einen Beruf capriciren, schliesst Einer sich an, der durch Vielseitigkeit wohlthuende Abwechslung bietet: Er kann auch nicht malen. Erst in gereifteren Jahren ging er daran, seiner Unbegabung auch schriftstellerischen Ausdruck zu geben, nicht ohne sich vorher eine feste Grundlage umfassender Bildungslosigkeit geschaffen zu haben, und lange bevor er durch seine eigenartigen Beziehungen zu der deutschen Grammatik von

Empfohlene Zitierweise:
Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_39.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)