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Oetzthales auf der Ferse, über Vend bis nach Heiligkreuz gelaufen sey, um dort noch immer voll Entsetzen und halbtodt vor Ermattung beim Caplan wieder zur Fassung zu kommen. So gingen wir demnach unsern Weg, jeder für sich – der Führer voran, Todtenstille ringsum – kein anderer Laut als das leise Knirschen unsrer Tritte.

Der Gletscher schien uns nicht sehr breit, etwa eine halbe Stunde, vielleicht nicht so viel. Der Weg führte etliche hundert Schritte von den Felsenwänden, die zur Rechten ihre Häupter in den Wolken verbargen, schnurgerade über das weiße Feld hinauf. Die schmutzige Spur von Menschentritten und Viehtrieb zeichnete ihn wenigstens von unten auf gesehen sehr kenntlich. Uns schien alles recht sicher und bequem, zumal da der Gletscher, seiner höhern Lage wegen, nicht ausgeabert und die Klüfte daher alle überschneit waren. Nicodemus mochte gleichwohl hie und da Gefahr wittern, denn etlichemale hielt er an und stieß mit dem Stocke bedenklichen Gesichtes in den Schnee, ohne Grund zu finden. Er pflegte dann den Kopf zu schütteln, ging aber nichtsdestoweniger bald mit einem weiten Schritte vor, uns befehlend in seine Fußstapfen zu treten, was wir denn auch folgsam thaten.

Jetzt war’s ungefähr 3 Uhr, und sehr düster auf dem Ferner – neben und über uns, vor und hinter uns dichte stockende Nebel. Nun begann aber auf einmal zur Linken das Jagen wieder. Das zog und zerrte, huschte und flog, und plötzlich riß es auseinander und aus dem bewegten Wolkenreigen stieg ein ungeheures Horn, schrecklich geschartet an den Wänden, von tiefbrauner, feuchtglänzender Farbe, und um das braune Haupt legte sich wie ein Heiligenschein eine Scheibe hellblauen Himmels, die auch mit einemmale sichtbar geworden. Nicodemus blieb stehen, drehte sich überrascht um und sagte leise: das ist Similaun – und so leise flüsterte er’s, als wenn er fürchtete durch lautes Wort das Ungethüm zu reizen. Wir aber hatten eine innige Freude über den titanischen Klotz, und diese wuchs noch immer als auch die letzten Schleier an den Flanken des Hornes verflogen, und dieses in seinem schimmernden Braun mit unbeschreiblicher Pracht vom

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_248.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)