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Halden und einen mäßigen Fleck vom blauen Himmel. Nur weit drüben und hoch oben sieht man Kornfelder und aus schwarzen Fichten einen weißen Kirchenthurm spitzen, St. Helena, wo ein Cooperator wohnt, hoch über den Pomeranzen der Etsch, weßwegen auch, wie der Ultner Wirth witzelte, nur ein solcher hinaufgestellt wird, der diese Frucht nicht besonders liebt. So gehen die Leute aus dem Zauber des Etschlandes, aus dem freundlichen Nonsberg gleichsam auf vierzig Tage in die Wüste, um ihr Auge zu kasteien für die sündliche Lust, die es das ganze Jahr über an der Schönheit der Natur gehabt. Billigerweise lassen sie den Magen nichts daran entgelten, denn die Ultnertafel ist fast noch reichlicher besetzt, als die andern Badetische in Tirol.

Die Gesellschaft ist sehr bunt; doch halten sich die Stände genau auseinander. Im vordern Gebäude wohnen „die bessern Leute,“ im hölzernen Hinterhause „die mindern.“ Die bessern Leute deutschen Stammes betrachten die Curzeit als Landaufenthalt und erscheinen durchweg in sehr schlichter Aeußerlichkeit, abstechend von den wälschen Gästen, die in makelloser Eleganz und Vornehmheit einherziehen. Ihre Wohnungen sind hölzerne Verschläge, enger als Klosterzellen, bloß zum Schlafen eingerichtet. Um zu schreiben und zu lesen kommt ohnedem niemand ins Ultnerbad. Freilich behauptet man, der Wirth habe seiner Zeit eine ganz hübsche Bibliothek gehabt, aber die Geistlichen hätten ihm allmählich seine besten Bücher ausgeführt, weil sie sie für sündhaft erachtet. Zartes, blaustrumpfiges Theeleben mit seelenvollem Vortrag eigener Gedichte, mit geistreicher Durchhechlung fremder, Vorlesungen shakespearischer Schauspiele in Tiecks Manier, wortreiche Raisonnements über Kunst und Litteratur, derlei immer feine, doch oft sehr abtödtende Genüsse wird man in Ulten vergebens suchen – dafür findet man aber, abgesehen von den Tafelfreuden, andre sehr wesenheitliche Unterhaltungen. Es ist in der That ein wunderbars Ding, daß Fröhlichkeit und Lebenslust, die man unten im heitern Thale bei den Gesunden ganz unterbunden, abgetrieben und ausgetrocknet, daß diese da oben in dem finstern Bergloche unter den Kranken

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol, München 1846, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_370.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)