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entlegen als der Ortles, gleichwohl höher erscheint, als dieser, und ich habe eine leise, vielleicht grundfalsche Ahnung, es könnte ihm einmal da drinnen bei genauer Messung selbst ein kleiner Nebenbuhler erstehen. Das bewohnte Land von Südtirol ist auf dem Kreuzjoche nur dürftig vertreten. Kollern, die kühle Sommerfrische mit ihren weißen Häuschen, die den Boznern so hoch über dem Scheitel leuchten, zeigt sich hier in beträchtlicher Tiefe. Darüber hinaus ist Deutschenofen und die weitgesehene Wallfahrtskirche von Weißenstein, und gegen Fleims hin sind etliche andre weiße Pünktchen wahrzunehmen; tief unten aber zur Linken ein grünes Stückchen Etschland mit dem schlängelnden Strom, ein weißer Streifen – Neumarkt – ein kleiner Abschnitt von Kaltern. Zur Rechten zeigt sich unten an der Töll neben der weißschäumenden Etsch in lieblicher Schönheit das frische Partschins – Meran aber ist noch verdeckt.

So schön die Aussicht hier oben, so wird sie doch, wie man in Meran versicherte, von jener auf dem Hirzer an Umfang und Großartigkeit noch weit übertroffen. Der Hirzer liegt nicht ferne vom Kreuzjoche, leider aber wußte ich damals noch nichts von seinen Vorzügen. Hier herum zeigten sich etliche von Wind und Wetter abgeschälte Fichtenbäume, mit zerknickten und gebrochenen Armen, durch Stürme und Alter gebückt – eine traurige Schau, wie sie fast auf allen Jöchern vorkömmt, um uns zu zeigen, daß der Holzwuchs von oben herunter absterbe und daß jetzt keine Bäume mehr aufkommen, wo ehedem noch stolze Fichten die Luft zu leben fanden.

Vom Joche weg erreichte ich bald wieder eine Almhütte, wo etliche betagte Weiber walteten in schlechter Vergnügtheit über das Sommerwetter, das ihnen in den letzten vier Wochen die Alm dreimal mit Schnee belegt hatte. Gleichwohl zeigten sich die Wiesen herum im schönsten Alpenschmucke. Gelb ist die Hauptfarbe solcher blühender Bergmähder und das machen die Ranunkeln, die die Laien Todtenblumen heißen; dazwischen aber mischt sich das Weiß der Dolden, das tiefe Himmelblau der Enzianen, das lebhafte Rosa des Speiks und so entsteht jener zauberhafte Blumenteppich, der den

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol, München 1846, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_412.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)