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Bühel der Gegend angenehme Abwechslung. Zwischen zwei solchen Anhöhen ist das verfallene Stift von Sonnenburg zu sehen, das auf ragendem Felsen über der Rienz liegt, einst stolz, reich und prächtig, jetzt, seitdem es Kaiser Joseph 1785 aufgelöst, gebrochen und zerfallen, als wenn das Verderben von Jahrhunderten darüber hingegangen wäre.

In diese Gegend kommen wir übrigens ein andermal, wenn wir vom Krimmlertauern durch das Ahrenthal herniedersteigen und in Brunecken Rasttag halten. Jetzt gehen wir wieder nach St. Leonhard zurück, um über Valparola nach Buchenstein zu wandern.

Es war ein schöner Abend, als ich von St. Leonhard dem hohen Ufer des Gaderbaches entlang zumeist über Wiesen hin nach St. Cassian ging, rechts von der langen senkrechten Wand des Kreuzkofels, der von der untergehenden Sonne beschienen, wie eine rothglühende Himmelsmauer aus den grünen Abhängen aufstarrte. Eine saubere Dirne war meines Weges, konnte mir aber sehr wenig mittheilen, da sie nur dürftig deutsch sprach. Sie suchte sich deßwegen, so gut es gehen wollte, zu entschuldigen und schien ihre Ungeübtheit in deutscher Zunge als etwas zu betrachten, was ihr bei ihrem Alter – von siebzehn Frühlingen – nicht ganz gut anstehe.

In St. Cassian fand ich sehr freundliche Aufnahme beim Curaten. Er ist ein geborner Enneberger und einer von jenen ehrenwerthen Männern, die sich mit Forschungen über ihre Muttersprache beschäftigen. Deßwegen legte ich auch mit meinen, obwohl sehr kurz gefaßten Kenntnissen im Ladin viele Ehre bei ihm ein. Das freundliche Gespräch, in das wir darüber geriethen, hielt uns bis gegen eilf Uhr beisammen.

Vom Herrn, der mich die Nacht beherbergt, hatte ich mich danksagend beurlaubt; ehe ich aber erzähle, was sich weiter begeben, muß ich noch der Sage Erwähnung thun, welche zu Wengen und St. Cassian von den vorzeitlichen Wilden erhalten ist. An beiden Orten findet sich nämlich ein Bach, den die Eingebornen Rü de gannes*) [1] nennen, den

  1. *) Genau genommen ist gannes der Name der weiblichen Wilden, denn die Männer heißen Salvang. Der Name ganna selbst scheint in altdeutsche Mythologie hinein zu spielen. (S. deutsche Mythologie von Jacob Grimm S. 375 und 279 und 413 in den Noten.) WS-Anmerkung: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Fußnote wurde auf dieser Seite vervollständigt
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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_479.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)