Seite:De Entstehung der Arten 1860 (Darwin) 202.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


dieser Theile entnehme, die sonderbare Thatsache erklären, wie es komme, dass jedes Theilchen von Speise und Trank, die wir zu uns nehmen, über die Mündung der Luftröhre weggleiten muss mit einiger Gefahr in die Lungen zu fallen, der sinnreichen Einrichtung ungeachtet, wodurch der Kehldeckel geschlossen wird. Bei den höheren Wirbelthieren sind die Kiemen gänzlich verschwunden, aber die Spalten an den Seiten des Halses und der Schlingen-förmige Verlauf der Arterien scheinen in dem Embryo des Menschen noch ihre frühere Stelle anzudeuten. Doch wäre es begreiflich gewesen, wenn die jetzt gänzlich verschwundenen Kiemen durch Natürliche Züchtung zu einem ganz anderen Zwecke umgearbeitet worden wären; wie nach der Ansicht einiger Naturforscher, dass die Kiemen und Rückenschuppen gewisser Ringelwürmer mit den Flügeln und Flügeldecken der sechsfüssigen Insekten homolog sind, es wahrscheinlich wäre, dass Organe, die in sehr alter Zeit zur Athmung gedient, jetzt zu Flug-Organen umgewandelt seyen.

     Was den Übergang der Organe zu andern Funktionen betrifft, ist es so wichtig sich mit der Möglichkeit desselben vertraut zu machen, dass ich noch ein weitres Beispiel anführen will. Die gestielten Rankenfüsser (Cirripedes) haben zwei kleine Hautfalten, von mir Eier-Zügel genannt, welche bestimmt sind, mittelst einer klebrigen Absonderung die Eier zurückzuhalten, so lange sie im Eiersack ausgebrütet werden. Diese Rankenfüsser haben keine Kiemen, indem die ganze Oberfläche des Körpers und Sackes mit Einschluss der kleinen Zügel zur Athmung dient. Die Balaniden oder sitzenden Cirripeden dagegen haben keine solche Zügel, indem die Eier lose auf dem Grunde des Sackes in der wohl geschlossenen Schaale liegen; aber sie haben grosse faltige Kiemen. Nun denke ich, wird Niemand bestreiten, dass die Eier-Zügel der einen Familie homolog mit den Kiemen der andern sind, wie sie denn auch in der That stufenweise in einander übergehen. Daher bezweifle ich nicht, dass kleine Hautfalten, welche hier anfangs als Eier-Zügel gedient und in geringem Grade schon bei der Athmung mitgewirkt, durch Natürliche Züchtung stufenweise in Kiemen verwandelt worden sind bloss

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_202.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)