Seite:De Entstehung der Arten 1860 (Darwin) 429.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


bedurft haben? Ich glaube, dass es allerdings so geschehen ist; und nur so vermag ich die verschiedenen Regeln und Vorschriften zu verstehen, welche von unsern besten Systematikern befolgt worden sind. Wir haben keine geschriebenen Stammbäume, sondern ermitteln die gemeinschaftliche Abstammung nur vermittelst der Ähnlichkeiten irgend welcher Art. Daher wählen wir Charaktere aus, die, so viel wir beurtheilen können, durch die Beziehungen zu den äusseren Lebens-Bedingungen, welchen jede Art in der laufenden Periode ausgesetzt gewesen ist, am wenigsten verändert worden sind. Rudimentäre Gebilde sind in dieser Hinsicht eben so gut und zuweilen noch besser, als andre. Mag ein Charakter noch so unwesentlich erscheinen, seye es ein eingebogner Unterkiefer-Rand, oder die Faltungs-Weise eines Insekten-Flügels, sey es das Haar- oder Feder-Gewand des Körpers: wenn sich derselbe durch viele und verschiedenartige Spezies erhält, durch solche zumal, welche sehr ungleiche Lebens-Weisen haben, so nimmt er einen hohen Werth an; denn wir können seine Anwesenheit in so vielerlei Formen und mit so manchfaltigen Lebens-Weisen nur durch seine Ererbung von einem gemeinsamen Stamm-Vater erklären. Wir können uns dabei hinsichtlich einzelner Punkte der Organisation irren; wenn aber verschiedene noch so unwesentliche Charaktere durch eine ganze grosse Gruppe von Wesen mit verschiedener Lebens-Weise gemeinschaftlich andauern, so werden wir nach der Theorie der Abstammung fest überzeugt seyn können, dass diese Gemeinschaft von Charakteren von einem gemeinsamen Vorfahren ererbt ist. Und wir wissen, dass solche in Wechselbeziehung zu einander vorkommende Charaktere bei der Klassifikation von grossem Werthe sind. Es wird begreiflich, warum eine Art oder eine ganze Gruppe von Arten in einigen ihrer wesentlichsten Charaktere von ihren Verwandten abweichen und doch ganz wohl mit ihnen zusammen klassifizirt werden kann. Man kann Diess getrost thun und hat es oft gethan, so lange als noch eine genügende Anzahl von wenn auch unbedeutenden Charakteren das verborgene Band gemeinsamer Abstammung verräth. Denn sogar, wenn zwei Formen nicht einen einzigen

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_429.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)