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sind. Wir begreifen, warum wir manche Ähnlichkeit weit höher als andre zu werthen haben; warum wir mitunter rudimentäre oder nutzlose oder andre physiologisch unbedeutende Organe anwenden dürfen; warum wir bei Vergleichung der einen mit der andern Gruppe analoge oder Anpassungs-Charaktere verwerfen, obwohl wir dieselben innerhalb der nämlichen Gruppe gebrauchen. Es wird uns klar, warum wir alle lebenden und erloschenen Formen in ein grosses System zusammen ordnen können, und warum die verschiedenen Glieder jeder Klasse in der verwickeltesten und nach allen Richtungen verzweigten Weise miteinander verkettet sind. Wir werden wahrscheinlich niemals das verwickelte Verwandtschafts-Gewebe zwischen den Gliedern einer Klasse entwirren; wenn wir jedoch einen einzelnen Gegenstand in’s Auge fassen und nicht nach irgend einem unbekannten Schöpfungs-Plane ausschauen, so dürfen wir hoffen, sichere aber langsame Fortschritte zu machen.

     Morphologie.) Wir haben gesehen, dass die Glieder einer Klasse, unabhängig von ihrer Lebens-Weise, einander im allgemeinen Plane ihrer Organisation gleichen. Diese Übereinstimmung wird oft mit dem Ausdrucke »Einheit des Typus« bezeichnet; oder man sagt, die verschiedenen Theile und Organe der verschiedenen Spezies einer Klasse seyen einander homolog. Der ganze Gegenstand wird unter dem Namen Morphologie zusammen begriffen. Diess ist der interessanteste Theil der Naturgeschichte und kann deren wahre Seele genannt werden. Was kann es sonderbareres geben, als dass die Greifhand des Menschen, der Grabfuss des Maulwurfs, das Rennbein des Pferdes, die Ruderflosse der Seeschildkröte und der Flügel der Fledermaus nach demselben Model gearbeitet sind und gleiche Knochen in der nämlichen gegenseitigen Lage enthalten. Geoffroy Saint-Hilaire hat beharrlich an der grossen Wichtigkeit der wechselseitigen Verbindung der Theile in homologen Organen festgehalten; die Theile mögen in fast allen Abstufungen der Form und Grösse abändern, aber sie bleiben fest in derselben Weise miteinander verbunden. So finden wir z. B. die Knochen des Ober- und des Vorder-Arms oder des Ober- und Unter-Schenkels nie aus ihrer

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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_437.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)