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solchen männlichen Pflanze mit einer hermaphroditischen Art sah Kölreuter in dem Bastard das Pistill-Rudiment an Grösse zunehmen, woraus sich ergibt, dass das Rudiment und das vollkommene Pistill sich in ihrer Natur wesentlich gleichen.

     Ein für zweierlei Verrichtungen dienendes Organ kann für die eine und sogar die wichtigere derselben rudimentär werden oder ganz fehlschlagen und in voller Wirksamkeit für die andre bleiben. So ist die Bestimmung des Pistills, die Pollen-Schläuche in den Stand zu setzen, die in dem Ovarium an seiner Basis enthaltenen Ei’chen zu erreichen. Das Pistill besteht aus der Narbe vom Griffel getragen; bei einigen Compositae jedoch haben die männlichen Blüthchen, welche mithin nicht befruchtet werden können, ein Pistill in rudimentärem Zustande, indem es keine Narbe besitzt, und doch bleibt es sonst wohl entwickelt und wie in andern Compositae mit Haaren überzogen, um den Pollen von den umgebenden Antheren abzustreifen. So kann auch ein Organ für seine eigene Bestimmung rudimentär werden und für einen andern Zweck dienen, wie in gewissen Fischen die Schwimmblase für ihre eigne Verrichtung, den Fisch im Wasser zu erleichtern, beinahe rudimentär zu werden scheint, indem sie in ein Athmungs-Organ oder Lunge überzugehen beginnt.

     Nur wenig entwickelte aber doch brauchbare Organe sollten nicht rudimentär genannt werden; man kann nicht mit Recht sagen, sie seyen in atrophischem Zustand; sie mögen für »werdende« Organe gelten und später durch Natürliche Züchtung in irgend welchem Maasse weiter entwickelt werden. Dagegen sind rudimentäre Organe oft wesentlich nutzlos: wie Zähne, welche niemals das Zahnfleisch durchbrechen, in ihrem noch wenig entwickelten Zustande auch nur von wenig Nutzen seyn können. Bei ihrer jetzigen Beschaffenheit können sie nicht von Natürlicher Züchtung herrühren, welche bloss durch Erhaltung nützlicher Abänderungen wirkt; sie sind, wie wir sehen werden, nur durch Vererbung erhalten worden[1] und stehen mit der frühern Beschaffenheit


  1. Aber wenn sie jetzt nicht von Natürlicher Züchtung herrühren können, wie sind sie dann das erste Mal entstanden, ehe sie wieder zu schwinden begannen? Gewiss verdienen sie aber in diesem letzten Falle nicht den Namen „werdende“ oder „beginnende“ Organe, sondern müssen „verkümmernde“ heissen.     D. Übs.
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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_455.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)