Seite:De Flüssige Kristalle Lehmann 03.jpg

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Vorwort.

Lebewesen bestehen aus „Zellen“, deren jede als eine unteilbare Einheit, ein „Individuum“ betrachtet wird, so wie wir unsere eigene Person als unteilbar auffassen, obschon unser Leib ein Aggregat von Zellen ist. In Wirklichkeit ist eine Zelle teilbar und bei niedrigen einzelligen Lebewesen wie Bakterien ist die Vermehrung durch Selbstteilung ein sehr häufig sich vollziehender Prozeß ebenso wie umgekehrt die Vereinigung zweier Zellen zu einer einzigen, Kopulation oder, falls die Teile ungleichartig sind, Befruchtung genannt.

     Die meisten nicht lebenden Stoffe z. B. Metalle, Marmor, Granit usw. sind Aggregate von „Kristallen“, die man ebenfalls als Individuen auffaßt, obschon sie sich spalten oder durch Druck verschweißen lassen. Sie gelten deshalb als Aggregate noch kleinerer Einheiten der Atome und Moleküle, die nach den Ergebnissen chemischer und physikalischer Forschung selbst wieder einen komplizierten Aufbau (aus elektrischen Teilchen, Elektronen und Ionen) besitzen. Wenn man dennoch von „Kristallindividuen“ spricht, so liegt der Grund in der Ähnlichkeit des Wachstums der Kristalle mit der von Lebewesen, wenn sie auch nur eine äußerliche ist.

     Kleine hohle Zinnfiguren gießt man, indem man die Schmelze in eine kalte Form einfließen läßt und alsbald wieder ausschüttet. An den kalten Wänden der Form bleibt eine feste Kruste zurück, die sich bei näherer Betrachtung als ein Aggregat von Kristallen erweist. In ganz derselben Weise kann man hohle Figuren aus Zucker (z. B. sog. Osterhasen) gießen, doch erweist sich in diesem Falle die Kruste nicht als Aggregat von Kristallen, sie ist vielmehr eine völlig homogene durchsichtige glasige Schicht von amorphen Zucker. Genauere Untersuchung des Erstarrungsvorgangs unter dem Mikroskop ergibt, daß Kristalle stets scharf gegen die Schmelze abgegrenzt sind, so wie ein Lebewesen scharf abgegrenzt ist, während amorphe Körper allmählich in die Schmelze übergehen. Die Phasenlehre drückt dies so aus, Kristalle seien Phasen, amorphe Körper dagegen übersättigte Lösungen oder überkühlte Schmelzen, labile oder metastabile Zustände, keine Gleichgewichtszustände der Molekülaggregation.

     Bei der Kristallisation vereinigen sich in der Regel nur gleichartige Moleküle, weshalb bei Herstellung chemischer Präparate das Umkristallisieren eine häufig benutzte Methode der Reinigung ist. Bei amorphen glasigen oder harzigen Körper ist dagegen Trennung durch Abkühlung oder Verdunsten nicht möglich. Während bei kristallinischer Erstarrung der Zucker sich von der Mutterlauge trennt, bleiben bei amorpher Erstarrung Zucker- und Wassermoleküle gemischt. Man kann deshalb sagen, ein Kristall sei ein Aggregat gleichartiger Teilchen und da diese gleichartige Kräfte aufeinander ausüben, ist ein Kristall nicht nur chemisch, sondern auch physikalisch homogen, die Teilchen sind zu einem regelmäßigen Punktsystem, einem Raumgitter vereinigt. Ein Kristallindividuum erstreckt sich soweit, als seine Struktur gleichmäßig ist.