Seite:De Flüssige Kristalle Lehmann 04.jpg

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     In vollkommener Strenge ist dies freilich tatsächlich nicht der Fall. Ideale Kristalle dieser Art finden sich in der Natur nicht; jeder Kristall ist mit irgendeiner Unvollkommenheit behaftet und schon die Durchbiegung durch das eigene Gewicht bedingt eine Abweichung von der vollkommenen Raumgitterstruktur. Die bisherige Kristallographie glaubte indes von diesen Unvollkommenheiten absehen zu können und physikalische Homogenität geradezu in die Definition des Kristallzustandes aufnehmen zu müssen.

     Meine Studien über Kristallisation[1] führten aber zu dem genau entgegengesetzten Ergebnis, daß nämlich gleichartige Moleküle auch ohne alle äußeren Störungen sich in einer von Raumgitterstruktur völlig abweichenden Anordnung vereinigen können, welche nach beliebiger Störung immer von selbst sich wiederherstellt, also durchaus stabil ist. Diese Aggregate wachsen wie ideale Kristallindividuen, sind also Phasen und somit eigentliche Kristalle, obschon ihnen die physikalische Homogenität fehlt. Sie bilden Übergänge von den festen Kristallen zu den amorphen Flüssigkeiten und werden deshalb von mir „flüssige Kristalle“ genannt, sofern es sich um einheitliche Massen handelt, „kristallinische Flüssigkeiten“, falls zusammengesetzte Massen vorliegen.

     Zwei flüssige Kristalle können zu einem einzigen zusammenfließen, sich kopulieren, umgekehrt kann sich ein solcher von selbst in zwei zerteilen, ähnlich wie niedrige Lebewesen sich kopulieren und von selbst teilen können. Sie besitzen auch wie letztere gestaltende und treibende Kräfte, welche wie Muskeln mechanische Arbeit direkt aus chemischer Energie erzeugen. Man kann hieraus auf Verwandtschaft der in beiden Fällen tätigen Molekularkräfte schließen, jedenfalls aber die Grundgesetze dieser Kräfte näher erforschen.

     Die Beobachtung der interessanten Vorgänge ist freilich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und darauf mag beruhen, daß sie noch wenig bekannt sind. Der Kinematograph ermöglicht nun photographische Aufnahme und Wiedergabe in Projektion. Ich habe deshalb einen Kinofilm hergestellt, welcher auch die nötigen Erläuterungen enthält und in allen Kinotheatern vorgeführt werden kann, deren Apparate mit Handkurbel und Motor versehen sind. Der Film kann leihweise bezogen werden von der Universumfilm-Aktiengesellschaft, Kulturabteilung (naturwissenschaftliche Gruppe) in Berlin W 9, Köthenerstraße 43. Die folgende Abhandlung, welche im wesentlichen ein Sonderabdruck meiner Abhandlung: „Die molekulare Richtkraft der flüssigen Kristalle“ in der Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie Bd. 113, S. 253, 1920 ist und auch Figuren aus meiner vergriffenen Schrift „Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens“, 2. Auflage, Verlag von Joh. Ambr. Barth, Leipzig 1908 enthält, ist dazu bestimmt, die kurzen auf dem Film enthaltenen Erläuterungen zu vervollständigen für denjenigen, welcher sich näher für den Gegenstand interessiert. Sie enthält auch Hinweise auf die vorhandene Literatur, in welcher man ausführliche Darlegungen findet.



  1. Zeitschr. f. Kristallographie 1. 1877; Molekularphysik, Leipzig 1888/89; Flüssige Kristalle, Leipzig 1904 usw.