Seite:De Flüssige Kristalle Lehmann 70.jpg

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leistung ist augenscheinlich die bei der Bindung des Wassers verloren gehende freie chemische Energie, ähnlich wie die Muskelkontraktion mit Verminderung der chemischen Energie durch Sauerstoffaufnahme zusammenhängt. Das Eindringen des Wassers erfolgt hier auf chemischem Wege nicht durch einfache Diffusion; nämlich so, daß jedes Molekül, welches Wasser aufgenommen hat, alsbald wieder einen Teil davon an das nächste abgibt usw. Die neu sich bildenden Hydratmoleküle drücken die vorhandenen auseinander und erzeugen so eine Art Wachstum durch Intussuszeption. Bei Paraazoxyzimtsäureäthylester kann aber die Quellung durch die verschiedenartigsten Flüssigkeiten bewirkt werden, die anscheinend nicht chemisch gebunden werden, so daß, falls es sich nicht etwa um sehr lockere chemische Bindung handelt, hier chemische Energie als Quelle der Bewegungsenergie nicht in Betracht käme.

     Da das Hervorquellen von Stäbchen oder Schlangen immer da eintritt, wo sich die Basis einer konischen Störung befindet, muß man annehmen, daß daselbst der durch die molekulare Richtkraft bedingte Oberflächenspannungsdruck geringer ist. Das Quellen dauert an, bis der erzeugte kapillare Gegendruck das Gleichgewicht hält, d. h. eine bestimmte kugelige Krümmung des Fortsatzes hervorgebracht ist. Bei weiterer Quellung wird sich diese Krümmung nicht ändern, d. h. die Dicke der Myelinform kann sich bei zunehmender Länge nicht ändern, wie auch tatsächlich zu beobachten ist.

     Die Analogien, die sich zwischen den gestaltenden und treibenden Kräften bei flüssigen Kristallen und Lebewesen zeigen, haben mich veranlaßt, die Myelinkristalle des Paraazoxyzimtsäureäthylesters als scheinbar lebende Kristalle[1] zu bezeichnen; der bekannte berühmte Biologe E. Haeckel[2] schrieb ihnen sogar wirkliches Leben zu[3], und vielleicht wird die Physiologie einmal in der Lage sein, zu beweisen, daß jene Analogien auf tatsächlicher Verwandtschaft oder Identität der wirkenden molekularen Kräfte beruhen. Von großem Interesse scheint, daß die sog. Biokristalle,


  1. O. Lehmann, Die scheinbar lebenden Kristalle, Eßlingen a. N. 1907.
  2. E. Haeckel, Kristallseelen, Leipzig 1917. (Darin auch Biokristalle.)
  3. Siehe hierzu: O. Lehmann, „Das „Als ob“ in Molekularphysik“, Ann. d. Philosophie von Vahinger, 1 (1918), 203. Ferner E. Guye, Arch. d. sc. phys. et nat. 2. (1920), 176.