Seite:De Geschichtsauffassung 001.jpg

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Wie entsteht eine neue Geschichtsauffassung? – Wäre die Geschichte eine Naturwissenschaft, so müßte man antworten: durch die Auffindung neuer Tatsachen in dem behandelten Gebiet, welche sich in das bisherige System nicht einfügen lassen. So entstand aus der Beobachtung der Brechung und Polarisation des Lichts die Undulationstheorie, aus der Beobachtung der Hertzschen Wellen eine neue Auffassung vom Wesen der Elektrizität.

Bei der Geschichte scheint das anders zu sein. Die kleindeutsche Geschichtsauffassung, die Sybel 1860 gegen Ficker zu Ehren zu bringen sucht, hat ihre Ursache nicht in dem Bekanntwerden neuer Geschichtsquellen für das Mittelalter, sondern in der Frankfurter Kaiserwahl von 1849 und Österreichs Niederlage von 1859, die Suche nach Sozialismus und Kommunismus im Altertum nicht in dem Erscheinen neuer Bände des Corpus Inscriptionum, sondern in dem Auftauchen dieser Strömungen in unsrer Zeit.

Es sind also auch hier neue Tatsachen, die die neue Auffassung bewirken, aber nicht solche aus dem Umkreis des behandelten Stoffes, sondern aus dem Lebenskreis des Geschichtschreibers, Tatsachen des politischen Lebens oder geistige Strömungen von anderen Gebieten her, die schließlich auch eine Revision der Meinungen über unser Verhältnis zur Vergangenheit fordern. Erst dann, wenn eine solche neue Auffassung gewonnen ist, scheint sich der Blick für bisher unbeachtete und verborgen liegende Erscheinungen dieser Vergangenheit zu schärfen; was nützte es sonst auch, Neuland zu entdecken, wenn keine Sehnsucht über das alte hinausstrebt?

Wenn dem so ist, so wird eine Geschichte der Historiographie eine besondere Aufgabe haben: sie wird die Veränderungen des geistigen Lebens wie in einem Spiegel sehen lassen können und müssen. Seit Hegel pflegen wir diese Aufgabe zunächst der Geschichte der Philosophie zuzuweisen, und gewiß wird man z. B. die Wendung der Deutschen vom Weltbürgertum zum Nationalismus ebenso gut und besser an der Entwicklung Kant, Fichte, Hegel, als etwa an der Schiller, Johannes v. Müller, Niebuhr verfolgen. Aber