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Wann aber kommt nun nach seiner Meinung die Kultur zu den Deutschen? Erst im Gefolge der Religion, wenn auch anderseits diese nicht ohne einen gewissen Kulturstand erfaßt werden kann.[1] Deshalb sind die Versuche der ersten Glaubensboten in Deutschland erfolglos geblieben, erst mit den Franken beginnt die Christianisierung, erst mit den Ottonen die ornamenta litterarum et civilitatis.


Man wird, glaube ich, eine gemeinsame Wurzel all dieser Anschauungen suchen dürfen: die kühle Beurteilung der Kriegstaten wie der Weltherrschaftsidee, die Hervorhebung des Friedens als Ergebnis der Zivilisation, vor allem aber der Zusammenhang zwischen Religion und Bildung, das alles ist erasmisch. So hätte Erasmus eine deutsche Geschichte angesehen.

Erasmisch ist dann auch der Standpunkt, den Rhenanus bei der Auswahl seiner Quellen einnimmt. Die wichtigsten, wie Ammian, Prokop, Agathias, Claudian und Sidonius Apollinaris stammen aus jenen Zeiten, wo die untergehende antike Kultur sich mit dem aufgehenden Christentum verbindet. Was folgt, gehört den infelicia tempora an.[2] So schon Cassiodor mit seiner Historia tripartita[3], dann aber die ganze Mönchsgeschichtschreibung. Denn, meint Rhenanus[4], es sind viel weniger die Goteneinfälle gewesen, die die literarische Überlieferung vernichtet haben, als die törichte Nachlässigkeit der Späteren, die das Gerettete nicht weiterzugeben wußten. Das bezieht sich bei ihm zunächst auf die Überlieferung der klassischen Schriftstellertexte, aber es stimmt dazu, wenn er sich die Urkundenschreiber der Frankenkönige als ein unwissendes Geschlecht[5] und die „Schottenmönche“ als die eigentlichen Geschichtsverderber vorstellt.[6] Es sind dieselben Mönche, die für Celtis und auch für Bebel die besonderen Bewahrer der Wissenschaften waren.

Vielleicht darf man noch eine weitere Besonderheit des Rhenanus als erasmisch bezeichnen. Wenn er sich den Gründungs- und Ursprungsfabeln alter und neuer Mache gegenüber kritischer verhält als irgendein anderer, wenn er den Riesen Sletto als Gründer Schlettstadts ebenso ablehnt, wie die Heroensammlung des Pseudoberosus, der ihn noch 1519 getäuscht hatte, und den Hunibald des Trithemius[7], so leitet ihn dabei nicht nur die bessere Kenntnis des Altertums, sondern auch eine Abneigung gegen den Eponymenkultus überhaupt. Er sieht sich nicht nach Stammvätern der Ingävonen und Herminonen um, und wenn Trithemius für die Gründung von Seligenstadt den Salagast des Gregor von Tours bemüht hatte, so genügt


  1. [264] 162) Res Germ. 86: Rudiores enim erant (Germani), quam qui nova doctrina caperentur aut a deliriis avocari possent. Vgl. 118: Soli Germani et pertinaciuscule quidem Alemanni in paganismo perstabant.
  2. [264] 163) S. den Tacitus von 1533 Bl. aa 4 (er möchte eine Tacituserwähnung bei Jordanes retten, trotzdem dieser Autor propter infelicitatem illorum temporum als parum idoneus testis erscheint). Ebenso Res Germ. 29 über Gregor von Tours.
  3. [264] 164) Briefwechsel 324: Conduxerat olim, ut videtur, Cassiodorus senator in suo infelici saeculo, quando cum Romano imperio optimis simul litteris profligatis barbaries apud Italos non solum in Palatio, sed etiam in scholis regnare coepit.
  4. [264] 165) Bfwechsel 355: Widmung des Plinius an Johannes von Lasco.
  5. [264] 166) Res Germ. 12: Alsae et Alsatiae vocabula rudi saeculo Francorum regum debemus, quorum domestici scribae et ab epistolis homines Gallici quidvis quolibet vocabulo nominabant, modo latinam formam imitaretur. – 62 (Austrasia) quod vocabulum Gallicani scribae effinxerunt, cum a Francis ipsis dubio procul Ostrich vocaretur. – Tacitus v. 1533 S. 428: Sic etiam restituenda sunt illa locorum nomina, quorum fit in lege Salica mentio circa principium, ubi mendose scriptum est a librariis Gallicis.
  6. [264] 167) Res Germ. 160: Commentarii mediae antiquitatis hominum plerumque [265] monachorum non minus ineptiunt quam vulgus ipsum, a quo magna ex parte haustum est, quod adventicii ab adventiciis edocti post tantas rerum ac populorum mutationes in litteras utcunque rettulerunt. Hi fuerunt Scoti et Hiberni. Vgl. 162 und oben Anm. 109.
  7. [265] 168) Zusammenstellung der Berosusdiskussion bei Horawitz 346 ff. Dazu noch Res Germ. 40: Non nego tamen doctum fuisse, qui nobis Berosum effinxit, quisquis fuit, nam ita rem temperavit, ut non cuivis impostura statim suboleat.