Seite:De Geschichtsauffassung 153.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

der Streitaxt. Meist geht er fehl. Statt der sechs Wanderungen der Sueven bei Rhenanus hat er acht, und das, trotzdem er die Markomannen, die Rhenanus zunächst als Teil der Sueven behandelt, außerdem noch auf acht Wanderungen verfolgen kann. Die Franken aber, deren Ursprungssage Rhenanus so schneidend kritisiert hatte, erhalten hier wieder ihren ehrwürdigen Stammbaum, der über Sikambrer, Kimbern und Kimmerier bis an das Urvolk der Aboriginer heranführt.

Denn Lazius kann nicht scheiden, wie Rhenanus, er will um jeden Preis verquicken. Er zitiert mit hohem Lobe die Unterscheidung, die Rhenanus mit einleuchtenden Gründen zwischen Goten und Geten vorgenommen hatte, und – setzt sie zwei Blätter später wiederum gleich. Wiederum sind Germanen, Gallier und Kelten ein und dasselbe, die Germanen also das Urvolk Europas. Überhaupt genügt ihm der mindeste Anklang eines der Taciteischen oder Strabonischen Völkernamen an eine Bezeichnung auf der Karte seiner Zeit, um eine neue „sedes“ seiner soviel umfassenden Stämme zu konstruieren.[1]

Das wäre nicht möglich gewesen, wenn er seine Quellen wirklich philologisch betrachtet hätte wie Rhenanus. Davon ist er weit entfernt. Nicht nur seine Wiedergaben von Inschriften und Urkunden haben sich als unzuverlässig erwiesen[2], auch seine Interpretation der Quellentexte ist sehr weitherzig. Um ein Bild von den Markomannen zu gewinnen, denen er als dem mutmaßlich wichtigsten Bestandteil in der colluvies Austriacorum besondere Aufmerksamkeit widmet[3], hat er unbeschämt das meiste, was Tacitus von den Germanen oder Cäsar von den Sueven im allgemeinen zu sagen weiß, auf sie übertragen. In den Nachrichten aus späterer Zeit aber spielen bei Lazius die Annales vetustissimi, die sich jeder Zeitansetzung fügen, eine bedenkliche Rolle. Auch das Nibelungenlied gehört dazu[4], und Lazius hat den Ruhm, daß sich bei ihm die ersten Zitate aus unserem Nationalepos finden, damit erkauft, daß er die chronologischen Bedenken, welche schon die ersten Humanisten, ja sogar schon mittelalterliche Geschichtschreiber aus der Gleichsetzung des Gotenkönigs an Attilas Hof mit dem historischen Theoderich ableiteten[5], in den Wind geschlagen hat. Daß auch Berosus und Hunibald bei ihm in Ehren stehen, ist danach selbstverständlich. Niemand würde vermuten, daß er die Äußerungen des Rhenanus über diese „albernen Erfindungen“ gelesen hat.

In all diesen Dingen erinnert Lazius an Aventin, und es ist nicht bedeutungslos, daß er die Annalen desselben, die ihm doch wahrscheinlich


  1. [269] 219) Charakteristisch für seine Art ist auch, wie er 453 die lex Ripuaria für die Alemanni Francis tributarii verwertet und 474 Ansibarii [= Ampsivarii] in die Suevenwanderung hineinbringt.
  2. [269] 220) S. Mommsen in CIL III, I, 479 und Mayr l. c. 47 f.
  3. [269] 221) l. c. 642 Non displicet mihi Beati Rhenani, doctissimi viri, coniectura in Commentariis rerum Germanicarum asserentis, Austriacos Styriosque Marcomanorum esse posteritatem.
  4. [269] 222) l. c. 353 antiquus Annalium liber, 680 codex pervetustus Annalium; an anderen Stellen heißt der Verfasser poetaster ille Gothicus.
  5. [269] 223) S. z. B. Sachs. Weltchronik ed. Weiland (M. G. Dte. Chr. II, 135, 1).