Seite:De Heimatlos (Spyri) 037.jpg

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„Siehst du“, fuhr es eifrig fort, „jetzt hast du eine Geige und kannst ein Lied. Da mußt du bei jedem Wirtshaus unter die Stubentür gehen und das Lied singen und geigen; dann geben dir die Leute etwas zu essen und lassen dich schlafen da, denn sie sehen dann, daß du nicht ein Bettler bist. So kannst du gehen bis an den See, und im Heimweg kannst du es wieder so machen.“

Rico wurde ganz nachdenklich, aber Stineli ließ ihm keine Zeit zum Staunen, es wollte gleich noch einmal singen.

Vor lauter Gesang hörten sie auch gar nichts von der Betglocke, und erst als es zu dunkeln anfing, merkten sie, daß es Zeit war, heimzugehen, und schon von fern sahen sie die Großmutter, wie sie ängstlich umherschaute.

Aber diesmal war Stineli zu sehr im Feuer, um von einer Besorgnis gedämpft zu werden. Es rannte auf die Großmutter zu und rief: „Du kannst nicht glauben, Großmutter, wie gut der Rico geigen kann, und wir haben jetzt ein eigenes Lied, nur für uns. Wir wollen dir's gleich singen.“

Und eh' die Großmutter nur ein Wort sagen konnte, sangen sie schon mit heller Stimme zu der Geige ihr ganzes Lied durch, und die Großmutter hörte die frischen Stimmen gerne. Sie war auf das Holz niedergesessen, und wie die Kinder nun zu Ende waren, sagte sie: „Komm, Rico, jetzt mußt du mir auch noch ein Lied spielen und wir wollen es miteinander singen. Kannst du das Lied: 'Ich singe dir mit Herz und Mund'?“

Rico hatte es vielleicht auch schon gehört, aber er wußte es nicht mehr recht und meinte, erst müsse es die Großmutter einmal singen; dann wolle er leise nachgeigen, nachher könne er's dann schon.

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Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_037.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)