Seite:De Heimatlos (Spyri) 055.jpg

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Daneben stand der Mann mit dem dicken Stock, er schien auf den Kutscher zu warten. Rico stellte sich auch hin und wartete desgleichen.

Der Schafhändler mußte ihn in der Dunkelheit nicht gleich erkannt haben; auf einmal sagte er erstaunt: „Was, bist du auch noch da, Kleiner, wo mußt du denn deine Nacht zubringen?“

„Ich weiß nicht, wo“, antwortete Rico.

„Das wäre der Tausend! um elf Uhr in der Nacht ein solches bißchen von einem Buben wie du, und im fremden Lande –“

Der Schafhändler mußte seine Worte völlig herausblasen, denn in der Erregung kam er nicht gut zu Atem; er endigte aber seinen Satz nicht, denn der Kutscher kam aus dem Stalle, und Rico lief gleich auf ihn zu und sagte: „Ich habe Euch noch danken wollen, daß Ihr mich mitgenommen habt.“

„Das ist gerade gut, daß du noch kommst, jetzt hätte ich dich über den Rossen vergessen und wollte dich doch da einem Bekannten übergeben. Eben wollte ich Euch fragen, guter Freund“, fuhr er, zum Schafhändler gewandt, fort, „ob Ihr nicht das Büblein mitnehmen würdet, weil Ihr doch ins Bergamaskische hinabgeht. Es muß an den Gardasee hinunter, irgendwohin; es ist so eins von denen, die so hin und her – Ihr versteht mich schon.“

Dem Schafhändler kamen allerhand Geschichten von gestohlenen und verlorenen Kindern vor Augen, er schaute Rico im Schein der Laterne mitleidsvoll an und sagte halblaut zum Kutscher: „Er sieht auch so aus, als ob es nicht sein rechtes Futteral wäre, in dem er steckt. Er wird wohl in ein Herrenmäntelchen hineingehören. Ich nehme ihn mit.“

Empfohlene Zitierweise:
Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_055.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)