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„Wart du Lügenbrut[1]! rief der Schneider im größten Zorn, willst du mich zum Narren haben!“ sprang mit einem rothen Gesicht hinauf nach seinem Stock, und jagte auch den jüngsten Sohn fort. Nun war er mit seiner Ziege ganz allein, am andern Morgen sprach er zu ihr: „komm, liebes Thierlein, ich will dich zur Weide führen,“ nahm es am Strick und brachte es an grüne Hecken und unter Schafrippe und was die Ziegen sonst gern haben und ließ sie weiden bis zum Abend. Da sprach er: „Ziege, bist du satt?“ Sie antwortete:

„Ich bin so satt,
ich mag kein Blatt: meh! meh!“

„So komm nach Haus“ sprach der Schneider, brachte sie in den Stall und band sie fest. „Nun bist du doch einmal satt!“ sprach er beim Fortgehen; die Ziege aber machte es ihm nicht besser und rief:

„wie sollt ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein: meh! meh!“

Als der Schneider das hörte, stutzte er und sah wohl, daß er seine drei Kinder unschuldig verstoßen hatte: „wart, rief er, du gottloses, undankbares Geschöpf, du sollst dich nicht mehr unter ehrlichen Menschen sehen lassen!“ sprang hinauf, holte sein Bartmesser, seifte der Ziege den Kopf ein und schor ihn so glatt, wie seine flache Hand; darauf nahm er die Peitsche und jagte sie hinaus.

Nun war der Schneider traurig, daß er so ganz allein sein


  1. Vorlage: Lügenbart (Druckfehler. Siehe S. 440)
Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1819). Berlin: G. Reimer, 1819, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_Grimm_1819_V1_182.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)