Liebe Mathilde!
Du beklagst Dich über mein monatelanges Schweigen, und solltest doch froh sein, daß ich Dich während einer Zeit innerer und äußerer Zerrissenheit mit Briefen verschonte. Womit ich nicht behaupten will, daß ich Dir jetzt das Bild abgeklärter Weisheit geben könnte. Aber ich habe zum mindesten den Taumel überwunden und sehe das Verwirrende, Vielgestaltige des neuen Lebens. – Doch Du willst zunächst seinen Rahmen kennen lernen. Er ist – um ihn mit zwei Worten zu kennzeichnen – bronzierter Gips, den der Fremde für vergoldete Holzschnitzerei zu halten verpflichtet ist. Wir wohnen – natürlich! – im ‚vornehmen‘ Westen, aber an jener Grenzscheide, wo die neuesten Mietskasernen mit ihren dunkeln Höfen und protzigen Fassaden sich mit den Kartoffelfeldern begegnen. Unsere Wohnung hat einen Aufgang ‚nur für Herrschaften‘ und ist selbstverständlich ‚hochherrschaftlich‘: über den Türen tanzen Stuckamoretten mit verrenkten Armen und Beinen, die Öfen sind Prachtgebäude aus den buntesten Kacheln, das Eßzimmer –
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/458&oldid=- (Version vom 31.7.2018)