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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält.

Der wache Frühlingshain soll nie von ihr,

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Von ihr des Felsen Tochter nimmer schweigen,

Daß seine alten Tannen sich zu mir
Entzückt mit ihren Sängern niederbeugen.

Erzählt’s, ihr Schatten, wie ihr säuselnd sie
In goldnen Schlaf der Kindheit eingerauschet.

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Ihr Haine, singt’s, daß eurer Melodie

Am Mutterbusen schon ihr Herz gelauschet.

Hier wand sie um den leichten Sonnenhut,
Um Brust und Haar den Schmuck der Blumenhügel;
Sie sah gebeugt sich lächelnd in der Flut

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Und zögernd stand der Wellen Silberspiegel.


Von ihr belauscht sang hier die Nachtigall
Dem längern Frühling sanftre Melodieen.
Vor ihrer Milde lernte selbst der Fall
Des Bachs harmonisch über Kiesel fliehen.

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Da ward ihr heilger Tempel die Natur!

Im Morgenroth, in stiller Haine Hallen,
Im Sternenglanz, im Wehn der Aerndteflur
Sieht sie den Unsichtbaren sichtbar wallen.

Wie, sanft bewegt auf spiegelheller Flut,

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Von leichten Wölkchen malerisch umwanket,

Der Abendhimmel blau und heiter ruht,
Und hie und da ein Stern in Wellen schwanket;

So ruht im Wiederschein der Gottheit Bild
Auf ihrer Seele, nie vom Sturm umdunkelt,

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Von Erdensorgen leise nur umhüllt,

Durch die der frohe Stern des Glaubens funkelt.

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1792, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band2_231.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)