Seite:De Neue Thalia Band3 028.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

glänzt von zerrinnendem Schnee, aber zehn Sonnen vermögen nicht, es ganz zu schmelzen. Einzig ist dieser Anblick, unvergleichbar dem, der ihn sieht, undenkbar dem, der ihn nicht sieht. Es ist, als wenn die Natur hier mit sich selbst in unaufhörlichem Streite läge, Kräfte gegen Kräfte sezte, jede wirken und keine die andre besiegen ließe. Die Strahlen der Sonne brennen hier stärker, weil sie in dem Thal, wie in einem Brennpunkt zusammengezogen werden, und doch lacht der undurchdringliche kalte Eishaufe ihrer Hitze. Die von den Felsen herabfließenden Wasser untergraben ihn, und vereinen sich mit der Sonnenwärme, die dicke Masse zu verringern, aber sie bleibt unauflöslich. Unabsehliche Schlünde öffnen sich zwischen breiten Schneehügeln, und in den kleinern Rinnen der Thäler fließen Bäche. Durchsichtige blaue Eispyramiden erheben sich am Ende des Thals, so weit ich es sehn kann. Denn nur der kleinste Theil ist vom Montanvert sichtbar, doch eine mehr als drey Stunden lange Strecke. Indem ich dies auf der Stelle aufzeichnete, kam mein Freund zurück, und brachte mir ein Stück Eis mit; es war so rein, wie der hellste Crystall, und löschte meinen Durst. Wie wohlthuend sind die einzelnen grünen Flecken an den grauen Felsen für die vom Glanze des Schnees geblendeten Augen!

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_028.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)