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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

die wahre Würde, die sich nie der Natur, nur der rohen Natur schämt, auch da, wo sie an sich hält, noch stets frey und offen bleibt, wenn in den Augen Empfindung strahlt, und der heitre stille Geist auf der beredten Stirne ruht, so legt die Gravität die ihrige in Falten, wird verschlossen und mysteriös, und bewacht sorgfältig wie ein Komödiant ihre Züge. Alle ihre Gesichtsmuskeln sind angespannt, aller wahre natürliche Ausdruck verschwindet, und der ganze Mensch ist wie ein versiegelter Brief. Aber die falsche Würde hat nicht immer Unrecht, das mimische Spiel ihrer Züge in scharfer Zucht zu halten, weil es vielleicht mehr aussagen könnte, als man laut machen will; eine Vorsicht, welche die wahre Würde freylich nicht nöthig hat. Diese wird die Natur nur beherrschen, nie verbergen; bey der falschen hingegen herrscht die Natur nur desto gewaltthätiger innen, indem sie außen bezwungen ist [1].

Schiller.     

  1. Indessen giebt es auch eine Feyerlichkeit im guten Sinn, wovon die Kunst Gebrauch machen kann. Diese entsteht nicht aus der Anmassung, sich wichtig zu machen, sondern sie [229] hat die Absicht, das Gemüth auf etwas wichtiges vorzubereiten. Da wo ein großer und tiefer Eindruck geschehen soll, und es dem Dichter darum zu thun ist, daß nichts davon verloren gehe, so stimmt er das Gemüth vorher zum Empfang desselben, entfernt alle Zerstreuungen und setzt die Einbildungskraft in eine Erwartungsvolle Spannung. Dazu ist nun das Feyerliche sehr geschickt, welches in Häufung vieler Anstalten besteht, wovon man den Zweck nicht absieht, und in einer absichtlichen Verzögerung des Fortschritts, da, wo die Ungeduld Eile fodert. In der Musik wird das Feierliche durch eine langsame gleichförmige Folge starker Töne hervorgebracht; die Stärke erweckt und spannt das Gemüth, die Langsamkeit verzögert die Befriedigung, und die Gleichförmigkeit des Takts läßt die Ungeduld gar kein Ende absehen.
    Das Feierliche unterstützt den Eindruck des großen und erhabenen nicht wenig, und wird daher bey Religionsgebräuchen und Mysterien mit großem Erfolg gebraucht. Die Wirkungen der Glocken, der Choralmusik, der Orgel sind bekannt; aber auch für das Auge gibt es [230] ein Feyerliches, nehmlich die Pracht, verbunden mit dem Furchtbaren, wie bey Leichenzeremonien, und bey allen öffentlichen Aufzügen, die eine große Stille, und einen langsamen Takt beobachten.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_228.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)