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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

Pathos ist also die erste und unnachlaßliche Foderung an den tragischen Künstler, und es ist ihm erlaubt, die Darstellung des Leidens so weit zu treiben, als es, ohne Nachtheil für seinen letzten Zweck, ohne Unterdrückung der moralischen Freyheit, geschehen kann. Er muß gleichsam seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben, weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen dasselbe eine Gemüthshandlung (etwas positives) und nicht vielmehr bloß etwas negatives und ein Mangel ist.

Dieß letztere ist der Fall bey dem Trauerspiel der ehemaligen Franzosen, wo wir höchst selten oder nie die leidende Natur zu Gesicht bekommen, sondern meistens nur den kalten, deklamatorischen Poeten oder auch den auf den Stelzen gehenden Komödianten sehen. Der frostige Ton der Deklamation erstickt alle wahre Natur, und den französischen Tragikern macht es ihre angebetete Dezenz vollends ganz unmöglich, die Menschheit in ihrer Wahrheit zu zeichnen. Die Dezenz verfälscht überall, auch wenn sie an ihrer rechten Stelle ist, den Ausdruck der Natur, und doch fodert diesen die Kunst unnachlaßlich. Kaum können wir es einem französischen Trauerspielhelden glauben, daß er

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_368.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)