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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

kräftig gerührt nicht erhoben seyn will. Alles schmelzende wird daher vorgezogen, und wenn noch so großer Lerm in einem Concertsaal ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins thierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Athem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Princip der Freyheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird [1]. Alle diese Rührungen sage ich, sind


  1. Ich kann hier nicht unbemerkt lassen (wie sehr ich es auch dadurch mit dem Modegeschmack verderben mag) daß die beliebten Zeichnungen unsrer Angelika Kaufmann zu der nehmlichen Klasse d. i. zum bloß angenehmen zu rechnen sind, und sich selten oder nie zum Schönen erheben. Weit mehr hat es die Künstlerinn auf unsern Sinn als auf unsern Geschmack angelegt, und sie verfehlt lieber die Wahrheit, vernachläßigt lieber die Zeichnung, opfert lieber [375] die Kraft auf, als daß sie dem weichlichen Sinn durch eine etwas harte oder auch nur kühne Andeutung wahrer Natur zu nahe treten sollte. Eben so ist die Magie des Kolorits und der Schattierung oft bloß angenehme Kunst, und man darf sich daher nicht wundern, wenn der erste Blick und der große Haufe vorzüglich dadurch gewonnen werden; denn der Sinn urtheilt immer zuerst, auch bey dem Kenner, und er urtheilt allein bey dem Nichtkenner.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_374.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)