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diese Scenen aus, fordere sie aber auf, sich dieselben nochmals vorzustellen. Sie scheint es zu versuchen und bleibt dabei ruhig, auch spricht sie von da an in der Hypnose ohne jenes spastische Stocken.[1]

Da ich sie disponirt finde, mir Aufschlüsse zu geben, stelle ich die weitere Frage, welche Ereignisse ihres Lebens sie noch ferner derart erschreckt haben, dass sie die plastische Erinnerung an sie bewahrt hat. Sie antwortet mit einer Sammlung solcher Erlebnisse: Wie sie ein Jahr nach dem Tode ihrer Mutter bei einer ihr befreundeten Französin war und dort mit einem andern Mädchen in’s nächste Zimmer geschickt wurde, um ein Lexikon zu holen und dann aus dem Bette eine Person sich erheben sah, die genau so aussah wie jene, die sie eben verlassen hatte. Sie blieb steif wie angewurzelt stehen. Später hörte sie, es sei eine hergerichtete Puppe gewesen. Ich erkläre diese Erscheinung für eine Hallucination, appellire an ihre Aufklärung, und ihr Gesicht glättet sich.

Wie sie ihren kranken Bruder gepflegt und er in Folge des Morphins so grässliche Anfälle bekam, in denen er sie erschreckte und anpackte. Ich merke, dass sie von diesem Erlebniss schon heute früh gesprochen, und frage sie darum zur Probe, wann dieses „Anpacken“ noch vorgekommen. Zu meiner freudigen Ueberraschung besinnt sie sich diesmal lange mit der Antwort und fragt endlich unsicher: Die Kleine? An die beiden anderen Anlässe (s. o.) kann sie sich gar nicht besinnen. Mein Verbot, das Auslöschen der Erinnerungen, hat also gewirkt. – Weiter: Wie sie ihren Bruder gepflegt und die Tante plötzlich den bleichen Kopf über den Paravent gestreckt, die gekommen war, um ihn zum katholischen Glauben zu bekehren. – Ich merke, dass ich hiemit an die Wurzel ihrer beständigen Furcht vor Ueberraschungen gekommen bin, und frage, wann sich solche noch zugetragen haben. – Wie sie zu Hause einen Freund hatten, der es liebte, sich ganz leise in’s Zimmer zu schleichen, und dann plötzlich da stand; wie sie nach dem Tode der Mutter so krank wurde, in einen Badeort kam; und dort eine Geisteskranke durch Irrthum mehrmals bei Nacht in ihr Zimmer und bis an ihr Bett kam; und endlich wie


  1. Wie man hier erfährt, sind das tickähnliche Schnalzen und das spastische Stottern der Patientin zwei Symptome, die auf ähnliche Veranlassungen und einen analogen Mechanismus zurückgehen. Ich habe diesem Mechanismus in einem kleinen Aufsatze: „Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über den hysterischen Gegenwillen“ (Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. I) Aufmerksamkeit geschenkt, werde übrigens auch hier darauf zurückkommen.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_047.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)