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soll, während sie schläft. – einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, oberflächlichste Schichte von quälenden Reminiscenzen abgetragen ist, kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbstverkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorscheine, der ich im Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des alten Satzes „minima non curat praetor“ ist, dass es zwischen dem Guten und dem Schlechten eine ganze grosse Gruppe von indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters, der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem kleinsten Erlebniss sieht, das ihn betrifft, und der nicht im Stande ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen.

In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften Bildern (so in Abbazia blutige Köpfe auf jeder Woge.) Ich lasse mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen ertheilt habe.

15. Mai. Sie hat bis ½9 Uhr geschlafen, ist aber gegen morgens unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tick, Schnalzen und etwas Sprachhemmung. „Ich sterbe vor Angst.“ Erzählt auf Befragen, dass die Pension, in der die Kinder hier untergebracht sind, sich im 4. Stock befinde und mittelst eines Lifts zu erreichen sei. Sie habe nun gestern verlangt, dass die Kinder diesen Lift auch zum Herunterkommen benützen, und mache sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verlässlich sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Geschichte der Gräfin Sch. . . kenne, die in Rom bei einem derartigen Unfalle todt geblieben sei? Ich kenne nun die Pension und weiss, dass der Aufzug Privateigenthum des Pensionsbesitzers ist; es scheint mir nicht leicht möglich, dass der Mann, der sich dieses Aufzuges in seiner Annonce rühmt, selbst vor dessen Benützung gewarnt haben solle. Ich meine, da liegt eine von der Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, theile ihr meine Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, dass sie selbst über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum kann ich nicht glauben, dass dies die Ursache ihrer Angst war, und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewusstsein zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose aneinder gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so von einer Kröte, die in einem Keller gefunden


Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_054.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)