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Lebens an, dass eine solche Besetzung einer Vorstellung mit unerledigtem Affect jedesmal ein gewisses Maass von associativer Unzugänglichkeit, von Unverträglichkeit mit neuen Besetzungen mit sich bringt.[1]

Es ist mir nun bis heute nicht gelungen, meine damaligen Voraussetzungen für einen Fall von motorischer Lähmung durch hypnotische Analyse zu erweisen, aber ich kann mich auf die Anorexie der Frau v. N . . als Beweis dafür berufen, dass dieser Mechanismus für gewisse Abulien der zutreffende ist, und Abulien sind ja nichts anderes als sehr specialisirte, – „systematisirte“ nach französischem Ausdruck – psychische Lähmungen.

Man kann den psychischen Sachverhalt bei Frau v. N . . im Wesentlichen charakterisiren, wenn man zweierlei hervorhebt: 1. Es sind bei ihr die peinlichen Affecte von traumatischen Erlebnissen unerledigt verblieben, so die Verstimmung, der Schmerz (über den Tod des Mannes), der Groll (von den Verfolgungen der Verwandten), der Ekel (von den gezwungenen Mahlzeiten), die Angst (von so vielen schreckhaften Erlebnissen), u. s. w. und 2. es besteht bei ihr eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit, welche bald spontan, bald auf erweckende Reize der Gegenwart hin (z. B. bei der Nachricht von der Revolution in S. Domingo) Stück für Stück der Traumen mitsammt den sie begleitenden Affecten in’s actuelle Bewusstsein ruft. Meine Therapie schloss sich dem Gange dieser Erinnerungsthätigkeit an und suchte Tag für Tag aufzulösen und zu erledigen, was der Tag an die Oberfläche gebracht hatte, bis der erreichbare Vorrath an krankmachenden Erinnerungen erschöpft schien.

An diese beiden psychischen Charaktere, die ich für allgemeine Befunde bei hysterischen Paroxysmen halte, Hessen sich einige wichtige Betrachtungen anschliessen, die ich verschieben will, bis dem Mechanismus der körperlichen Symptome einige Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Man kann nicht die gleiche Ableitung für alle körperlichen Symptome der Kranken geben, vielmehr erfährt man selbst aus diesem hieran nicht reichen Falle, dass die körperlichen Symptome einer Hysterie auf verschiedene Weisen zu Stande kommen. Ich gestatte mir zunächst, die Schmerzen zu den körperlichen Symptomen zu stellen. Soviel ich sehen kann, war ein Theil der Schmerzen gewiss organisch bedingt durch jene leichten (rheumatischen) Veränderungen in Muskeln,


  1. Archives de Neurologie, Nr. 77, 1893.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_076.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)