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Beide, durch ihre Entstehungsgeschichte nahe verwandten Symptome, Schnalzen und Stottern, blieben auch fernerhin associirt und wurden durch eine Wiederholung bei einem ähnlichen Anlasse zu Dauersymptomen. Dann aber wurden sie einer weiteren Verwendung zugeführt. Unter heftigem Erschrecken entstanden, gesellten sie sich von nun an (nach dem Mechanismus der monosymptomatischen Hysterie, den ich bei Fall V aufzeigen werde) zu jedem Schreck hinzu, wenn derselbe auch nicht zum Objectiviren einer Contrastvorstellung Anlass geben konnte.

Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduciren, dass sie ohne weiteren Anlass nach Art eines sinnlosen Tick beständig die Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tick verberge, und wenn es der Breuer’schen Methode hier nicht gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Verschwinden zu bringen, so kam diess daher, dass die Katharsis nur auf die drei Haupttraumen und nicht auf die secundär associirten ausgedehnt wurde.[1]


  1. Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, dass die Determinirung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und dass man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor Monaten behandelte ich ein 18jähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen complicirter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Antheil hatte. Das erste, was ich von ihr erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden Füssen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der Hysterie wäre es sicherlich nahe gelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die Reizung corticaler Centren beim hysterischen Anfall zu erblicken. Wo die Centren für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, dass solche Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcot’s ausmachen. Für die Zehenbewegungen wären symmetrische Rindenstellen in nächster Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als ich mit dem Mädchen besser bekannt worden war, fragte ich sie einmal directe, was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen; sie solle sich nicht geniren, sie müsste wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke wurde roth vor Scham und liess sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin [80] vollinhaltlich bestätigt wurde. Sie hatte vom Eintritt der Menses an durch Jahre an der Cephalaea adolescentium gelitten, die ihr jede anhaltende Beschäftigung unmöglich machte und sie in ihrer Ausbildung unterbrach. Endlich von diesem Hinderniss befreit, beschloss das ehrgeizige und etwas einfältige Kind, mächtig an sich zu arbeiten, um seine Schwestern und Altersgenossinnen wieder einzuholen. Dabei strengte sie sich über jedes Maass an, und eine solche Bemühung endete gewöhnlich mit einem Ausbruch von Verzweiflung darüber, dass sie ihre Kräfte überschätzt habe. Natürlich pflegte sie sich auch körperlich mit anderen Mädchen zu vergleichen und unglücklich zu sein, wenn sie an sich einen körperlichen Nachtheil entdeckt hatte. Ihr (ganz deutlicher) Prognathismus begann sie zu kränken, und sie kam auf die Idee, ihn zu corrigiren, indem sie sich Viertelstunden lang darin übte, die Oberlippe über die vorstehenden Zähne herabzuziehen. Die Erfolglosigkeit dieser kindischen Bemühung führte einmal zu einem Ausbruch von Verzweiflung, und von da an war Ziehen und Prickeln von der Wange nach abwärts als Inhalt der einen Art von Anfällen gegeben. – Nicht minder durchsichtig war die Determinirung der anderen Anfälle mit dem motorischen Symptom der Zehenstreckung und Zehenunruhe. Es war mir angegeben worden, dass der erste solche Anfall nach einer Partie auf den Schafberg bei Ischl aufgetreten sei, und die Angehörigen waren natürlich geneigt, ihn von Ueberanstrengung abzuleiten. Das Mädchen berichtete aber Folgendes: Es sei ein unter den Geschwistern beliebtes Thema gegenseitiger Neckerei, einander auf ihre (unleugbar) grossen Füsse aufmerksam zu machen. Unsere Patientin, seit langer Zeit über diesen Schönheitsfehler unglücklich, versuchte ihren Fuss in die engsten Stiefel zu zwängen, allein der aufmerksame Papa litt dies nicht und sorgte dafür, dass sie nur bequeme Fussbekleidung trug. Sie war recht unzufrieden mit dieser Verfügung, dachte immer daran und gewöhnte sich, mit den Zehen im Schuh zu spielen, wie man es thut, wenn man abmessen will, ob der Schuh um vieles zu gross ist, einen wieviel kleineren Schuh man vertragen könnte u. dgl. Während der Bergpartie auf den Schafberg, die sie gar nicht anstrengend fand, war natürlich wieder Gelegenheit, sich bei den verkürzten Röcken mit dem Schuhwerk zu beschäftigen. Eine ihrer Schwestern sagte ihr unterwegs: „Du hast aber heute besonders grosse Schuhe angezogen.“ Sie probirte mit den Zehen zu spielen; es kam ihr auch so vor. Die Aufregung über die unglücklich grossen Füsse verliess sie nicht mehr, und als sie nach Hause kamen, brach der erste Anfall los, in dem als Erinnerungssymbol für den ganzen verstimmenden Gedankengang die Zehen krampften und sich unwillkürlich bewegten.
    Ich bemerke, dass es sich hier um Anfalls- und nicht um Dauersymptome handelt; ferner füge ich hinzu, dass nach dieser Beichte die Anfälle der ersten Art aufhörten, die der zweiten mit Zehenunruhe sich fortsetzten. Es musste also wohl noch ein Stück dabei sein, das nicht gebeichtet wurde.
    Nachschrift: Ich habe später auch diess erfahren. Das thörichte Mädchen arbeitete darum so übereifrig an seiner Verschönerung, weil es – einem jungen Vetter gefallen wollte.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_079.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)