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oder Ueberzeugung fallen liess, war andererseits gefügig wie das beste Spitalsmedium, wo es sich um belanglose Suggestionen handelte, Dinge, die nicht in Beziehung zu ihrer Krankheit standen. Ich habe Beispiele von solchem posthypnotischen Gehorsam in der Krankengeschichte mitgetheilt. Ich finde keinen Widerspruch in diesem Verhalten. Das Recht der stärkeren Vorstellung musste sich auch hier geltend machen. Wenn man auf den Mechanismus der pathologischen „fixen Idee“ eingeht, findet man dieselbe begründet und gestützt durch so viele und intensiv wirkende Erlebnisse, dass man sich nicht wundern kann, wenn sie im Stande ist, der suggerirten, wiederum nur mit einer gewissen Kraft ausgestatteten, Gegenvorstellung erfolgreich Widerstand zu leisten. Es wäre nur ein wahrhaft pathologisches Gehirn, in dem es möglich wäre, so berechtigte Ergebnisse intensiver psychischer Vorgänge durch die Suggestion wegzublasen.[1]


  1. Von diesem interessanten Gegensatze zwischen dem weitestgehenden somnambulen Gehorsam in allen anderen Stücken und der hartnäckigsten Beständigkeit der Krankheitssymptome, weil letztere tief begründet und der Analyse unzugänglich sind, habe ich mir in einem anderen Falle einen tiefen Eindruck geholt. Ich behandelte ein junges, lebhaftes und begabtes Mädchen, das seit 1½ Jahren mit schwerer Gangstörung behaftet war, durch länger als 5 Monate, ohne ihr helfen zu können. Das Mädchen hatte Analgesie und schmerzhafte Stellen an beiden Beinen, rapiden Tremor an den Händen, ging vorgebeugt mit schweren Beinen, kleinen Schritten und schwankte wie cerebellar, fiel auch öfters hin. Ihre Stimmung war eine auffällig heitere. Eine unserer damaligen Wiener Autoritäten hatte sieh durch diesen Symptomcomplex zur Diagnose einer multiplen Sclerose verleiten lassen, ein anderer Fachmann erkannte die Hysterie, für die auch die complicirtere Gestaltung des Krankheitsbildes zu Beginn der Erkrankung sprach (Schmerzen, Ohnmächten, Amaurose), und wies mir die Behandlung der Kranken zu. Ich versuchte ihren Gang durch hypnotische Suggestion, Behandlung der Beine in der Hypnose etc. zu bessern, aber ohne jeden Erfolg, obwohl sie eine ausgezeichnete Somnambule war. Eines Tages, als sie wieder in’s Zimmer geschwankt kam, den einen Arm auf den ihres Vaters, den anderen auf einen Regenschirm gestützt, dessen Spitze bereits stark abgerieben war, wurde ich ungeduldig und schrie sie in der Hypnose an: „Das ist jetzt die längste Zeit so gewesen. Morgen Vormittag wird schon der Schirm da in der Hand zerbrechen, und Sie werden ohne Schirm nach Hause gehen müssen, von da an werden Sie keinen Schirm mehr brauchen.“ Ich weiss nicht, wie ich zu der Dummheit kam, eine Suggestion an einen Regenschirm zu richten; ich schämte mich nachträglich und ahnte nicht, dass meine kluge Patientin meine Rettung vor dem Vater, der Arzt war und den Hypnosen beiwohnte, übernehmen würde. Am nächsten Tage erzählte mir der Vater: „Wissen Sie, was sie gestern gethan hat? Wir gehen auf der Ringstrasse spazieren; plötzlich wird sie ausgelassen lustig und fängt an – mitten auf der Strasse – zu singen: Ein freies Leben führen wir, schlägt dazu den Takt mit dem [86] Schirm gegen das Pflaster und zerbricht den Schirm.“ Sie hatte natürlich keine Ahnung davon, dass sie selbst mit soviel Witz eine unsinnige Suggestion in eine glänzend gelungene verwandelt hatte. Als ihr Zustand auf Versicherung, Gebot und Behandlung in der Hypnose sich nicht besserte, wandte ich mich an die psychische Analyse und verlangte zu wissen, welche Gemüthsbewegung dem Ausbruch des Leidens vorhergegangen war. Sie erzählte jetzt (in der Hypnose, aber ohne alle Erregung), dass kurz vorher ein junger Verwandter gestorben sei, als dessen Verlobte sie sich seit langen Jahren betrachtet habe. Diese Mittheilung änderte aber gar nichts an ihrem Zustand; in dir nächsten Hypnose sagte ich ihr demnach, ich sei ganz überzeugt, der Tod des Vetters habe mit ihrem Zustand nichts zu thun, es sei etwas anderes vorgefallen, was sie nicht erwähnt habe. Nun liess sie sich zu einer einzigen Andeutung hinreissen, aber kaum dass sie ein Wort gesagt hatte, verstummte sie, und der alte Vater, der hinter ihr sass, begann bitterlich zu schluchzen. Ich drang natürlich nicht weiter in die Kranke, bekam sie aber auch nicht wieder zu Gesichte.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_085.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)