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seines erregbaren Temperamentes leicht hinnahmen. Für sie war es eine schmerzliche Enttäuschung, dass der Wiederaufbau des alten Familienglückes diese Störung erfuhr, und sie konnte es ihrer verheiratheten Schwester nicht vergeben, dass diese in frauenhafter Fügsamkeit bestrebt blieb, jede Parteinahme zu vermeiden. Eine ganze Reihe von Scenen war Elisabeth so im Gedächtniss geblieben, an denen zum Theil nicht ausgesprochene Beschwerden gegen ihren ersten Schwager hafteten. Der grösste Vorwurf aber blieb, dass er einem in Aussicht gestellten Avancement zu Liebe mit seiner kleinen Familie in eine entfernte Stadt Oesterreichs übersiedelte und so die Vereinsamung der Mutter vergrössern half. Bei dieser Gelegenheit fühlte Elisabeth so deutlich ihre Hilflosigkeit, ihr Unvermögen, der Mutter einen Ersatz für das verlorene Glück zu bieten, die Unmöglichkeit, ihren beim Tod des Vaters gefassten Vorsatz auszuführen.

Die Heirath der zweiten Schwester schien Erfreulicheres für die Zukunft der Familie zu versprechen, denn dieser zweite Schwager war, obwohl geistig minder hochstehend, ein Mann nach dem Herzen der feinsinnigen, in der Pflege aller Rücksichten erzogenen Frauen, und sein Benehmen söhnte Elisabeth mit der Institution der Ehe und mit dem Gedanken an die mit ihr verknüpften Opfer aus. Auch blieb das zweite junge Paar in der Nähe der Mutter, und das Kind dieses Schwagers und der zweiten Schwester wurde der Liebling Elisabeth’s. Leider war das Jahr, in dem dies Kind geboren wurde, durch ein anderes Ereigniss getrübt. Das Augenleiden der Mutter erforderte eine mehrwöchentliche Dunkelcur, welche Elisabeth mitmachte. Dann wurde eine Operation für nothwendig erklärt; die Aufregung vor derselben fiel mit den Vorbereitungen zur Uebersiedlung des ersten Schwagers zusammen. Endlich war die von Meisterhand ausgeführte Operation überstanden, die drei Familien trafen in einem Sommeraufenthalte zusammen, und die durch die Sorgen der letzten Monate erschöpfte Elisabeth hätte nun in der ersten, von Leiden und Befürchtungen freien Zeit, die dieser Familie seit dem Tode des Vaters gegönnt war, sich voll erholen sollen.

Gerade in die Zeit dieses Sommeraufenthaltes fällt aber der Ausbruch von Elisabeth’s Schmerzen und Gehschwäche. Nachdem sich die Schmerzen eine Weile vorher etwas bemerklich gemacht hatten, traten sie zuerst heftig nach einem warmen Bade auf, das sie im Badhaus des kleinen Curortes nahm. Ein langer Spaziergang, eigentlich ein Marsch von einem halben Tag, einige Tage vorher,

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_122.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)