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wurde dann in Beziehung zum Auftreten dieser Schmerzen gebracht, so dass sich leicht die Auffassung ergab, Elisabeth habe sich zuerst „übermüdet“ und dann „erkühlt“.

Von jetzt ab war Elisabeth die Kranke der Familie. Aerztlicher Rath veranlasste sie, noch den Rest dieses Sommers zu einer Badecur in Gastein zu verwenden, wohin sie mit ihrer Mutter reiste, aber nicht ohne dass eine neue Sorge aufgetaucht wäre. Die zweite Schwester war neuerdings gravid, und Nachrichten schilderten ihr Befinden recht ungünstig, so dass sich Elisabeth kaum zur Reise nach Gastein entschliessen wollte. Nach kaum zwei Wochen des Gasteiner Aufenthaltes wurden Mutter und Schwester zurückgerufen, es gienge der jetzt bettlägerigen Kranken nicht gut.

Eine qualvolle Reise, auf welcher sich bei Elisabeth Schmerzen und schreckhafte Erwartungen vermengten, dann gewisse Anzeichen auf dem Bahnhofe, welche das Schlimmste ahnen liessen, und dann, als sie in’s Zimmer der Kranken traten, die Gewissheit, dass sie zu spät gekommen waren, um von einer Lebenden Abschied zu nehmen.

Elisabeth litt nicht nur unter dem Verlust dieser Schwester, die sie zärtlich geliebt hatte, sondern fast ebensosehr unter den Gedanken, die dieser Todesfall anregte, und unter den Veränderungen, die er mit sich brachte. Die Schwester war einem Herzleiden erlegen, das durch die Gravidität zur Verschlimmerung gebracht worden war.

Nun tauchte der Gedanke auf, Herzkrankheit sei das väterliche Erbtheil der Familie. Dann erinnerte man sich, dass die Verstorbene in den ersten Mädchenjahren eine Chorea mit leichter Herzaffection durchgemacht hatte. Man machte sich und den Aerzten den Vorwurf, dass sie die Heirath zugelassen hätten, man konnte dem unglücklichen Witwer den Vorwurf nicht ersparen, die Gesundheit seiner Frau durch zwei auf einander folgende Graviditäten ohne Pause gefährdet zu haben. Der traurige Eindruck, dass, wenn einmal die so seltenen Bedingungen für eine glückliche Ehe sich getroffen hätten, dieses Glück dann solch ein Ende nähme, beschäftigte die Gedanken Elisabeth’s von da an ohne Widerspruch. Ferner aber sah sie wiederum alles in sich zerfallen, was sie für ihre Mutter ersehnt hatte. Der verwitwete Schwager war untröstlich und zog sich von der Familie seiner Frau zurück. Es scheint, dass seine eigene Familie, der er sich während der kurzen und glücklichen Zeit seiner Ehe entfremdet hatte, den Moment günstig fand, um ihn wieder in ihre eigenen Bahnen zu ziehen. Es fand sich kein Weg, die frühere Gemeinschaft aufrecht zu halten;

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_123.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)