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ihre Erinnerung ziehe. Sie schwieg lange und bekannte dann auf mein Drängen, sie habe an einen Abend gedacht, an dem ein junger Mann sie aus einer Gesellschaft nach Hause begleitet, an die Gespräche, die zwischen ihr und ihm vorgefallen seien, und an die Empfindungen, mit denen sie dann nach Hause zur Pflege des Vaters zurückkehrte.

Mit dieser ersten Erwähnung des jungen Mannes war ein neuer Schacht eröffnet, dessen Inhalt ich nun allmählich herausbeförderte. Hier handelte es sich eher um ein Geheimniss, denn ausser einer gemeinsamen Freundin hatte sie niemanden in ihre Beziehungen und die daran geknüpften Hoffnungen eingeweiht. Es handelte sich um den Sohn einer seit langem befreundeten Familie, deren Wohnsitz ihrem früheren nahe lag. Der junge Mann, selbst verwaist, hatte sich mit grosser Ergebenheit an ihren Vater angeschlossen, liess sich von dessen Rathschlägen in seiner Carrière leiten und hatte seine Verehrung vom Vater auf die Damen der Familie ausgedehnt. Zahlreiche Erinnerungen an gemeinsame Lectüre, Gedankenaustausch, Aeusserungen von seiner Seite, die ihr wiedererzählt worden waren, bezeichneten das allmähliche Anwachsen ihrer Ueberzeugung, dass er sie liebe und verstehe, und dass eine Ehe mit ihm ihr nicht die Opfer auferlegen würde, die sie von der Ehe fürchtete. Er war leider nur wenig älter als sie und von Selbständigkeit damals noch weit entfernt, sie war aber fest entschlossen gewesen, auf ihn zu warten.

Mit der schweren Erkrankung des Vaters und ihrer Inanspruchnahme als Pflegerin wurde dieser Verkehr immer seltener. Der Abend, an den sie sich zuerst erinnert hatte, bezeichnete gerade die Höhe ihrer Empfindung; zu einer Aussprache zwischen ihnen war es aber auch damals nicht gekommen. Sie hatte sich damals durch das Drängen der Ihrigen und des Vaters selbst bewegen lassen, vom Krankenbette weg in eine Gesellschaft zu gehen, in welcher sie ihn zu treffen erwarten durfte. Sie wollte dann früh nach Hause eilen, aber man nöthigte sie zu bleiben, und sie gab nach, als er ihr versprach sie zu begleiten. Sie hatte nie so warm für ihn gefühlt als während dieser Begleitung; aber als sie in solcher Seligkeit spät nach Hause kam, traf sie den Zustand des Vaters verschlimmert und machte sich die bittersten Vorwürfe, dass sie soviel Zeit ihrem eigenen Vergnügen geopfert. Es war das letzte Mal, dass sie den kranken Vater für einen ganzen Abend verliess; ihren Freund sah sie nur selten wieder; nach dem Tode des Vaters schien er aus Achtung vor ihrem Schmerz sich ferne zu halten, dann zog ihn das Leben in andere

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_126.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)