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auf eine steinerne Bank. Ihre Gedanken betrafen wieder ihre Vereinsamung, das Schicksal ihrer Familie, und den heissen Wunsch, ebenso glücklich zu werden, wie ihre Schwester war, gestand sie diesmal unverhüllt ein. Sie kehrte mit heftigen Schmerzen von dieser Morgenmeditation zurück; am Abend desselben Tages nahm sie das Bad, nach welchem die Schmerzen endgiltig und dauernd aufgetreten waren.

Mit aller Bestimmtheit ergab sich ferner, dass die Schmerzen im Gehen und Stehen sich anfänglich im Liegen zu beruhigen pflegten. Erst als sie auf die Nachricht von der Erkrankung der Schwester Abends von Gastein abreiste und während der Nacht, gleichzeitig von der Sorge um die Schwester und von tobenden Schmerzen gequält, schlaflos im Eisenbahnwagen ausgestreckt lag, stellte sich auch die Verbindung des Liegens mit den Schmerzen her, und eine ganze Zeit hindurch war ihr sogar das Liegen schmerzhafter als das Gehen und Stehen.

In solcher Art war erstens das schmerzliche Gebiet durch Apposition gewachsen, indem jedes neue pathogen wirksame Thema eine neue Region der Beine besetzte, zweitens hatte jede der eindruckskräftigen Scenen eine Spur hinterlassen, indem sie eine bleibende, immer sich mehr häufende „Besetzung“ der verschiedenen Functionen der Beine, eine Verknüpfung dieser Functionen mit den Schmerzempfindungen hervorbrachte; es war aber unverkennbar noch ein dritter Mechanismus an der Ausbildung der Astasie-Abasie in Mitwirkung gewesen. Wenn die Kranke die Erzählung einer ganzen Reihe von Begebenheiten mit der Klage schloss, sie habe dabei ihr „Alleinstehen“ schmerzlich empfunden, bei einer anderen Reihe, welche ihre verunglückten Versuche zur Herstellung eines neuen Familienlebens umschloss, nicht müde wurde zu wiederholen, das schmerzliche daran sei das Gefühl ihrer Hilflosigkeit gewesen, die Empfindung, sie „komme nicht von der Stelle“, so musste ich auch ihren Reflexionen einen Einfluss auf die Ausbildung der Abasie einräumen, musste ich annehmen, dass sie direct einen symbolischen Ausdruck für ihre schmerzlich betonten Gedanken gesucht und ihn in der Verstärkung ihres Leidens gefunden hatte. Dass durch eine solche Symbolisirung somatische Symptome der Hysterie entstehen können, haben wir bereits in unserer vorläufigen Mittheilung behauptet; ich werde in der Epikrise zu dieser Krankengeschichte einige zweifellos beweisende Beispiele aufführen. Bei Frl. Elisabeth v. R. . . stand der psychische Mechanismus der Symbolisirung nicht in erster Linie, er hatte die Abasie nicht geschaffen,

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_132.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)