Seite:De Studien über Hysterie 215.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

wir sind darum berechtigt zu glauben, dass sie auch die hysterische Disposition herstelle, soweit diese eben in dieser Eigenschaft des Nervensystems besteht. Damit anerkennen wir bereits die Sexualität als einen der grossen Componenten der Hysterie. Wir werden sehen, dass ihr Antheil daran ein noch viel grösserer ist, und dass sie auf den verschiedensten Wegen zum Aufbau der Krankheit mitwirkt.




Wenn die Stigmata direct dem originären Mutterboden der Hysterie entspringen und nicht ideogenen Ursprungs sind, so ist es auch unmöglich, die Ideogenie so in den Mittelpunkt der Hysterie zu stellen, wie es heute manchmal geschieht. Was könnte denn echter hysterisch sein als die Stigmata, jene pathognomonischen Befunde, welche die Diagnose feststellen, und doch scheinen gerade diese nicht ideogen. Aber wenn die Basis der Hysterie eine Eigenart des ganzen Nervensystems ist, – auf ihr erhebt sich der Complex von ideogenen, psychisch bedingten Symptomen wie ein Gebäude auf den Fundamenten. Und es ist ein mehrstöckiges Gebäude. Wie man die Structur eines solchen nur dann verstehen kann, wenn man den Grundriss der verschiedenen Stockwerke unterscheidet, so, meine ich, ist das Verständniss der Hysterie davon bedingt, dass die verschiedenartige Complication der Symptomursachen beachtet wird. Sieht man davon ab und versucht die Erklärung der Hysterie mit Benützung eines einzigen Causalnexus durchzuführen, so bleibt immer ein sehr grosser Rest unerklärter Phänomene übrig; es ist gerade, als wollte man die verschiedenen Gelasse eines mehrstöckigen Hauses auf dem Grundriss eines Stockwerkes eintragen.

Wie die Stigmata ist eine Reihe anderer nervöser Symptome, wie wir oben sahen, nicht durch Vorstellungen veranlasst, sondern directe Folge der fundamentalen Anomalie des Nervensystems: manche Algien, vasomotorische Phänomene, vielleicht der rein motorische Krampfanfall.

Ihnen zunächst stehen die ideogenen Phänomene, welche einfach Conversionen affectiver Erregung sind (pag. 177). Sie entstehen als Wirkungen von Affecten in Menschen von hysterischer Disposition und sind zunächst nur „anomaler Ausdruck der Gemüthsbewegungen (Oppenheim)[1]). Dieser wird durch Wiederholung zu einem wirklichen, scheinbar rein somatischen hysterischen Symptom, während die veranlassende Vorstellung unmerklich wird (pag. 180) oder abgewehrt und


  1. Jene Disposition ist eben das, was Strümpell als „die Störung im Psycho-Physischen“ bezeichnet, welche der Hysterie zu Grunde liegt.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_215.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)