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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.

Merkmale der Dinge uns selbst bewußt werden lassen, als sie uns auffallen, wenn ein Anderer sie vom Ausserwesentlichen abgeschieden und in einen Brennpunkt vereinigt hat. Zum Beweise brauchte ich nur an das schwere Studium des so vielfältig und so zart nüancirten Menschencharakters zu erinnern. Je feiner die Schattirungen sind, desto seltner ist sowohl die Gabe der bestimmten Erkenntniß, als die Kunst der treuen Ueberlieferung ihres Unterschieds.

Der Genuß eines jeden durch die Empfindung eines andern gegangnen und von ihm wieder mitgetheilten Eindrucks setzt aber eine frühere, wenn gleich unvollkommene Bekanntschaft mit dem bezeichneten Gegenstande in uns voraus. Ein Bild, wäre es auch nur Umriß, müssen wir haben, worinn unsre Einbildungskraft die besonderen Züge aus der neuen Darstellung übertragen und ausmalen könne. Die bestimmte Empfänglichkeit des Künstlers für das Individuelle erheischt daher, wenn sie recht geschätzt werden soll, einen kaum geringern Grad der allgemeinen Empfänglichkeit des Kunstrichters; und die Seltenheit dieses Grades ist ohne Zweifel der Grund, weshalb die höchste Stufe der Kunst in allen ihren Zweigen, so leicht verkannt werden, oder auch beynahe gänzlich unerkannt bleiben kann. Was der große Haufe an einem Gemälde, an einem Gedichte, oder an dem Spiel auf der Bühne bewundert, das ist es wahrlich nicht, worauf die Künstler stolz seyn dürfen; denn diesem Haufen genügt die Täuschung, die ihm Erdichtetes für Wahres

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1790–1791, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band3_Heft11_087.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)