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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.

meiner Leser sie unter Verbrechern aller Art schon erblickt, dahin wollen wir der Heldin noch folgen, und Rosen blühen sehen für sie aus dem Aufenthalt der Schande.

In dem Zuchthaus selbst fand sie die sanfte stille Belohnung ihrer stillen Größe: ein Herz, ein Auge das dort, und überall sie von ihrem übrigen Geschlecht zu unterscheiden vermochte. Nie hat vielleicht ein Mensch seinen Würkungskreis so erfüllt, so zum Besten seiner Brüder erweitert als der damalige Zuchthaus Verwalter in Wien. Die Erfahrung vieler Jahre hatte seine Menschenkenntniß bis zur Untrüglichkeit geläutert. So selten er getäuscht werden konnte, desto öfter und richtiger erkannte er die Irrthümer seiner Obern, und das unabläßige Bestreben seiner Menschenliebe war, diese wieder gut zu machen. Mit strenger Unparteilichkeit unterschied er in der Behandlung seiner Züchtlinge die verstockten, gegen Ehre und Schande gleichgültigen Sünder, die schamlosen Dirnen von den unglücklichen Opfern einer übelverstandenen Delikatesse. Jene lernten auf die Achtung dieses Mannes, dem sie die ihrige nicht versagen konnten, einen Werth legen, lernten vor seiner Geringschätzung sich entsetzen, und gewöhnten sich zu Empfindungen, die ihnen vorher unbekannt waren; bei diesen wußte er, mitten in der Ausübung der infamirenden Strafe, das zarte, durch den grausamen Leichtsinn der Richter so leicht erstickte Gefühl der Ehre lebendig zu erhalten. Er hatte eine kleine Welt um sich geschaffen, deren Mittelpunkt

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1790–1791, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band3_Heft9_045.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)