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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.

weil auch das vollendetste irdische Wesen nur ein Akkord ist jenes großen Zusammenklangs, in dessen Rauschen unser Geist versinkt!

     Eine Stufe war noch zu ersteigen übrig, und auch zu dieser hob sich die griechische Kunst. Das Gefühl des Künstlers war bereits vertraut mit jenen feineren Zügen, in denen sich die Lebenskraft offenbart. Es gnügte ihm nicht länger, nur einen schönen Leichnam zu formen; den schönen Körper belebte die schönere Seele und vor seinem Marmorbild ahndete der Zuschauer zum erstenmal, wie größere Menschen empfinden. „Diese Stirne birgt hohe Weisheit“, rief man einander zu; „jener Blick ergründet die Gedanken und enträthselt die Zukunft; Ueberredung fleußt von solchen Lippen! Den Schleier der Gestalten durchschimmern hier Leiden und Genuß; aber sie stören nicht das schöne Ebenmaas ihrer Züge, entadeln nicht ihre Stellung: so leidet und so genießt der Held und der Weise!“ Von gehaltener Wirkung ist jeder Karakter, wenn Schönheit seinen Ausdruck begränzt. Die ernste Jungfräulichkeit scheuchet nicht mehr das Auge des Staunenden zurück. Auch die reitzenden Formen der Liebe wecken nicht den Sturm unedler Begierden, sondern flößen das stille Sehnen der Zärtlichkeit in das Herz. List und Trug werden im Sohn der Maja zur anschmiegenden Grazie der Jugend. Des Rebengottes Trunkenheit ist nur Frohsinn und Freude. Auf Apollons, des Fernhertreffenden, Lippe verschwindet im Siegeslächeln der

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1790–1791, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band3_Heft9_098.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)