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anderer fremdartiger Geschichten wohl noch länger dagegen gesträubt haben, wenn mich mein Gewissen nicht daran erinnert hätte, daß es besser sei, lieber um kein Haar breit von meinem Texte abzuweichen, und allein der Wahrheit die Ehre zu geben.

Ich blieb bei der Wahrheit und ich war deshalb zehnmal weniger interessant, als wenn ich die Göttin der Lüge umarmt hätte. Wahrheit und Lüge! Die Göttin der Wahrheit ist wie ein sechs Fuß hohes Mädchen, mit blonden Haaren und mit kaltem aber schneeweißem Teint. Aus zwei großen blauen Augen, die wie zwei Himmel in ruhig heiterer Herrlichkeit zu dir niederlächeln, schaut dich die Seele der reinen keuschen Göttin, so unbefangen und doch so feierlich an, daß du nur schüchtern zu nahen wagst, um ihr höchstens die Stirn zu küssen, die hohe, olympische Stirn, und dann eines Befehles zu harren in banger Unterwürfigkeit, den langen, lieben, langweiligen Tag. Es geht uns mit der Wahrheit wie Cupido mit den sämtlichen Musen. Ich entsinne mich nämlich gelesen zu haben, sagt Meister Alcofribas[1], daß einst Cupido, den seine Mutter Venus frug, warum er nicht die Musen anfiel, zur Antwort gab, er fände sie so schön, rein, ehrbar, sittsam und stets beschäftigt, die eine mit Betrachtung der Sterne, die andere mit Berechnung der Zahlen, die dritte mit geometrischen


  1. Alcofribas Nasier, anagramatisches Pseudonym von François Rabelais (1494 – 1553)
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Georg Weerth: Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski. Tübingen 1849, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weerth_Schnapphahnski_201.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)