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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Band der Liebe. Da dichtete er für die Burschenfeste. Da feierte er den Segen seines mütterlichen Hauses durch das erste und gehaltvollste der hier mitgeteilten Gedichte, „Mutterliebe“. Da begann auch schon das komische Talent seiner Muse, dasjenige, wodurch sie sich später als Meisterin bewährt hat, sich zu entfalten … Sein Witz ist oft nur ein flüchtiger, sein Spott dringt nicht immer tief in das Wesen und die Bedeutung des vorgehaltenen Gegenstandes ein. Aber seine Schilderungen des Lebens gehen, ohne zu ermüden, so ins individuell Einzelne, und seine witzigen Bemerkungen sind gewöhnlich dem Gegenstande so angemessen, auch beim spielendsten Tone von einem sittlichen Ernste getragen und so gewinnend, daß wir, die anmutige Sprache, den lebhaften und gemütlichen Ausdruck der Darstellung hinzugerechnet, es wohl begreifen können, wie die ersten Dichter Deutschlands, unter welchen wir nur Tieck nennen, mit Wohlwollen das frühe Talent Hauffs betrachteten und zum Weiterstreben aufmunterten … Übrigens ist anzuerkennen, daß auch in den frühesten Poesien, so wenig Originalität sie besitzen, schöne und ansprechende Gedanken in einer meistens runden, wohllautenden und kräftigen Sprache uns begegnen. Ausgezeichnet schön nach Inhalt und Form aber ist das Rätsel: „Einst hieß man mich die schönste aller Frauen etc.“


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Mutterliebe.

Mutterliebe!
Allerheiligstes der Liebe!
Ach! die Erdensprache ist so arm,
O! vernähm’ ich jener Engel Chöre,

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Hört’ ich ihrer Töne heilig Klingen,

Worte der Begeistrung wollt’ ich singen:
     „Heilig, heilig ist die Mutterliebe!“

     Wie die Sonne geht sie lieblich auf,
Blickt herab, den Blick voll süßen Frieden,

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Lächelt freundlich ihren jungen Blüten –

Und die Pflanze sproßt zum Licht hinauf.
Rauhe Stürme ziehen durch die Flur,
Und die junge Pflanze bebet,
Doch die Sonne blickt durch die Natur

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Und die junge Pflanze lebet,

Neu erwärmt von ihrem Blick, und strebet
Höher noch zu ihrer Sonne auf.

     Mutterliebe! du, du bist die Sonne!
O wie leuchtest du der Blüte doch so warm!

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O wie heilig ist die Mutterwonne,

Wenn das Kind umschlingt der treue Arm!
So am Abend, so am Morgen,
Nie ermattet sie,
Wacht in Freuden, wacht in Sorgen

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Spät und früh;

Sie begießt mit Mutterthränen
Ihrer Augen Lust,
Wärmet sie mit stillem Sehnen
An der treuen Brust.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 4–5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_025.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)