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gewollt. Zuweilen waren die Mittel falsch, die er anwandte, zuweilen verstand man ihn nicht, zuweilen ließ er sich von der Hitze der Leidenschaft hinreißen – aber wo lebt der Mensch, von dem man dies nicht sagen könnte. Und wahrlich, er hat es grausam gebüßt!“ Er hielt inne, als hätte er schon mehr gesagt, als er sagen wollte, und umsonst suchte Georg über den Vertriebenen mehr zu erfahren. Der Alte versank in Stillschweigen und tiefes Sinnen.

Die Sonne war über die Berge heraufgekommen, die Nebel fielen, Georg trat ans Fenster, die herrliche Aussicht zu genießen. Unter dem Felsen von Lichtenstein, wohl dreihundert Klafter tief, breitet sich ein liebliches Thal aus, begrenzt von waldigen Höhen, durchschnitten von einem eilenden Waldbach, drei Dörfer liegen freundlich in der Tiefe; dem Auge, das in dieses Thal hinabsieht, ist es, als schaue es aus dem Himmel auf die Erde. Steigt das Auge vom tiefen Thale aufwärts an den waldigen Höhen, so begegnet es malerisch gruppierten Felsen und den Bergen der Alb, hinter dem Bergrücken steigt die Burg Achalm hervor und begrenzt die Aussicht in der Nähe. Aber vorbei an den Mauern von Achalm dringt rechts und links das Auge tiefer ins Land. Der Lichtenstein liegt den Wolken so nahe, daß er Württemberg überragt. Bis hinab ins tiefste Unterland können frei und ungehindert die Blicke streifen. Entzückend ist der Anblick, wenn die Morgensonne ihre schrägen Strahlen über Württemberg sendet. Da breiten sich diese herrlichen Gefilde wie ein bunter Teppich vor dem Auge aus; in dunklem Grün, in kräftigem Braun der Berge beginnt es, alle Farben und Schattierungen sind in diesem wundervollen Gewebe, das in lichtem Blau sich endlich mit der Morgenröte verschmilzt. Welche Ferne von Lichtenstein bis Asperg und welches Land dazwischen! Es ist kein Flachland, keine Ebene; viele Strömungen von Hügeln und Bergen ziehen sich hinauf und herunter, und von Hügeln zu Hügeln, welche breite Thäler und Ströme in ihrem Schoße bergen, hüpft das Auge zu dem fernen Horizont.

Georg betrachtete bewundernd; er strengte seine Augen mehr und mehr an, er suchte in die Weite zu dringen und jedes Schloß, [279] jedes Dorf auf der weiten Aussicht zu unterscheiden. Marie stand neben ihm; sie teilte seine Bewunderung, obgleich sie seit ihrer frühesten Kindheit dieses Schauspiel genossen. Sie zeigte ihm flüsternd jeden Fleck, sie wußte ihm jede Turmspitze zu nennen. „Wo ist eine Stelle in teutschen Landen“, sprach Georg, in diesen Anblick versunken, „die sich mit dieser messen könnte! Ich habe Ebenen gesehen und Höhen erstiegen, von wo das Auge noch weiter dringt, aber diese lieblichen Gefilde zeigen sie nicht. So reiche Saaten, Wälder von Obst, und dort unten, wo die Hügel bläulicher werden, ein Garten von Wein! Ich habe noch keinen Fürsten beneidet, aber hier stehen zu können, hinauszublicken von dieser Höhe und sagen zu können, diese Gefilde sind mein!

Ein tiefer Seufzer in ihrer Nähe schreckte Marien und Georg aus ihren Betrachtungen auf. Sie sahen sich um, wenige Schritte von ihnen stand im Fenster der Geächtete und blickte mit trunkenen, glänzenden Blicken über das Land hin, und Georg war ungewiß, ob jene Worte oder das Andenken an sein Unglück die Brust dieses Mannes bewegt hatten.

Er begrüßte Georg und reichte ihm die Hand. Dann wandte er sich zu dem Herrn des Schlosses und fragte, ob noch immer keine Botschaft da sei. „Der von Schweinsberg ist noch nicht zurück“, antwortete dieser.

Der Geächtete trat schweigend an das Fenster zurück und schaute in die Ferne. Marie füllte ihm einen Becher. „Seid getrosten Mutes, Herr“, sagte sie, „schauet nicht mit so finsteren Blicken auf das Land. Trinket von diesem Wein, er ist gut württembergisch und wächst dort unten an jenen blauen Bergen.“

„Wie kann man traurig bleiben“, antwortete er, indem er sich wehmütig lächelnd zu Georg wandte, „wenn über Württemberg die Sonne so schön aufgeht und aus den Augen einer Württembergerin ein so milder, blauer Himmel lacht. Nicht wahr, Junker, was sind diese Berge und Thäler, wenn uns solche Augen, solche treue Herzen bleiben? Nehmt Euren Becher und laßt uns darauf trinken! Solange wir Land besitzen in den Herzen, ist nichts verloren: Hie gut Württemberg allezeit[Hauff 1].

„Hie gut Württemberg allezeit“, erwiderte Georg und stieß

Anmerkungen (Hauff)

  1. [299] „Hie gut Württemberg alle weg.“ Findet sich oft als Wahlspruch dieser Partei. Vgl. Pfaffs Geschichte Württembergs, 306, in der Anmerkung.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 278–279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_162.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)